Erinnerungen an die Flucht aus Pommern

Zunächst eine kleine Vorgeschichte, beziehungsweise wie es dazu kam, dass ich in der Folge etwas veröffentlichen werde, was meine Oma selig meiner Patentochter Katharina berichtet hat. Meine Oma war eine der unzähligen Vertriebenen, die im Krieg aus Pommern geflohen sind und dann in Deutschland ihr Leben neu beginnen mussten. Aber von Anfang an:

Meine Patentochter fragte über WhatsApp in die Familiengruppe, ob wir noch wüssten, wo Oma vor dem Krieg gelebt hat. Wir Enkel begannen damit, unsere Erinnerung aufzufrischen. Oma war die Mutter unserer Mutter und bei vielen Familienfeiern wurden hin und wieder Geschichten von ihrer Flucht erzählt. Selbst meine Mutter, die damals noch ein Kind von 7 Jahren war, konnte sich an so manche Begebenheiten erinnern. Kurzum: Wir brachten es noch zusammen, dass Mutti und Oma aus Pommern/Regenwalde kamen. Irgendwann postete Katharina, meine Patentochter und Omas Urenkelin, ein Dokument über etwas, das unsere Oma ihr erzählt hatte und was Katharina 2005 niederschrieb: Omas Lebenslauf!

Ich war so baff, dass ich in die Runde fragte, ob es okay wäre, wenn ich diesen Lebenslauf veröffentlichen würde. Es gibt immer weniger Zeitzeugen und ich fürchte, vieles gerät in Vergessenheit. Und es ist ein Stück unserer Geschichte aus der Sicht einer einzelnen Person, die wirklich viel durchgemacht hat.

Oma lebt nicht mehr und auch meine Mutter ist inzwischen verstorben. Zur Erinnerung an diese beiden Menschen veröffentliche ich also diesen Lebenslauf, der auch die Flucht aus Pommern beinhaltet, genauso, wie sie diktiert und niedergeschrieben wurde. Ich habe kein Wort daran geändert, nichts hinzugefügt oder weggelassen, bis auf Namen und Bezeichnungen von Höfen, wo die Familie meiner Oma gewohnt hat.

Es ist ein Andenken an eine Frau und ein siebenjähriges Mädchen, die einiges durchgemacht haben. Etwas, was man nie vergessen dürfte und was sich auch nie wiederholen sollte!

Omas Lebenslauf

Ich heiße Frau Erna Krupp geb. Maske, geboren am 3.12.1915 in Regenwalde/Pommern. Es war eine schöne Stadt. Mein Vater ist im Ersten Weltkrieg gefallen, so musste unsere Mutter für uns zwei Kinder alleine sorgen. Nach ein paar Jahren hat meine Mutter wieder geheiratet. Mein Stiefvater stammt aus dem schwäbischen Land von Reutlingen, sein Beruf war Maler. Er war in Regenwalde Soldat. In der Ehe kamen noch 4 Kinder zur Welt, somit waren wir dann 6 Geschwister.

Ich habe 8 Jahre die Volksschule in Regenwalde besucht. Wir hatten keine schöne Jugend, denn wir mussten gleich aus dem Haus, um Geld zu verdienen, damit wir nicht zu hungern brauchten, denn unser Vater war eine Zeit lang arbeitslos.

Anfangs der dreißiger Jahre ging es dann aufwärts. Da die Eltern kinderreich waren, wurden für diese Einfamilienhäuser gebaut. Zum 15.4.1938 war das Haus fertig und wir konnten einziehen. Am 3.8.1939 wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Am 13.10.1939 habe ich geheiratet.

Mein Mann stammt aus Neuenhagen, Kreis Regenwalde aus einer Arbeiterfamilie. Er war auf einem großen Gut beschäftigt, wo ich dann auch wohnte. Ich war knapp 8 Wochen verheiratet, als mein Mann am 7.12.1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Zuerst hatten sie Kurzausbildung, dann ging es an die Front. Er war bei den Eisenbahnpionieren. So ging das Leben weiter. Meine älteste Tochter geb. 1937 hatte ich vor der Ehe. 1940 kam meine zweite Tochter zur Welt.

Ich musste von mittags 13 Uhr bis abends 18:20 Uhr auf dem Gut schwer arbeiten. Das Gut hatte 32 Arbeitspferde, 8-12 Kutschpferde, um die 80 Rinder sowie Schweine. Die Hauptanpflanzung war Kartoffeln. Korn wurde auch auf dem Gut angesät und geerntet. Wir mussten alles von Hand arbeiten, da es noch keine Traktoren gab, die erst gegen 1939 gegen Ende kamen. Ich musste viel im Gutshaus helfen, hauptsächlich bei der Wäsche und diese wurde nur von Hand gewaschen. Drei Tage mussten wir drei Frauen hinstehen, damit wir fertig wurden.

Am 1. Pfingstfeiertag 1944 hatten wir gegen 13 Uhr mittags einen schweren Luftangriff. 3 km von uns war ein Flugplatz. Es sollte eine große Maschine landen. Wir nannten sie „Die Dicke JU“. Aber sie konnte nicht landen, denn zur gleichen Zeit kam ein Bombergeschwader von England und flog Richtung Stettin. Die letzten drei Bomber hatten es gemerkt, dass eine Maschine landen wollte. Sie kamen gleich im Tiefflug runter und bombardierten den Flugplatz. Die Halle und einige Flugzeuge standen sofort in Flammen und waren total zerstört. Ich kann mich noch genau erinnern, denn mein Mann sollte am ersten Feiertag für eine Woche in Urlaub kommen, aber durch den Angriff standen die Züge still und somit kam er am nächsten Tag.

Im Herbst des Jahres 1944 wurde unser Hof mit deutschen Soldaten belegt, die immer mehr rückwärts gingen. Bei mir vor der Haustür stand ein Übertragungswagen von der Wehrmacht, so wussten wir, wie weit der Feind vorrückte. Der Übertragungswagen spendete mir Strom, weil unserer abgeschaltet war. Die Soldaten waren sehr besorgt um mich, da ich schwanger war. Sie wurden schon ein paar Tage vorher abkommandiert, bevor wir flüchteten. Ich bekam von ihnen noch einen Karton Wachslichter, damit ich bei der Geburt Licht hatte.

Ich hatte meine Schwester Hedwig bei mir, sie wollte mir bei der Geburt sowie im Haushalt helfen. Aber es kam alles anders. Am Abend vor der Flucht, am 2.3.1945 setzten gegen 20 Uhr meine Wehen ein und um 22:45 Uhr habe ich ein gesundes und kräftiges Mädchen geboren. Von der Hebamme erfuhr ich, dass die Russen nur noch 30 km von uns entfernt waren und sie mich am nächsten Morgen wieder besuchen würde. Aber sie kam nicht mehr. Ich musste an diesem Morgen, es war der 3.3.1945 schon um 6 Uhr aufstehen und das Frühstück richten, da meine Schwester schon am Packen für die Flucht war. Die Hauptsache war, dass wir Papiere, Kleidung und Essen für alle hatten. Die Nachricht, die wir bekamen, hieß, dass wir das Dorf nur für 1 bis 2 Wochen zu verlassen haben. Aber daraus wurde eine Ewigkeit.

Da kamen schon die Pferdewagen vom Gut vorgefahren. Sie waren gut mit Teppichen ausgeschlagen, damit wir es auch warm hatten. Es waren 7 Familien, die auf dem Gut arbeiteten, und alle mussten auf den Wagen untergebracht werden. Nun mussten wir unsere Heimat verlassen. Es gab viele Tränen. Als ich aus dem Haus ging, habe ich zum Herrgott gebetet, er möchte uns die Kraft zum Überleben geben. Die Bauersfrauen brachten mir noch eingewecktes Fleisch und Schmalz, damit meine Kinder und ich nicht verhungerten. Mit 6 Wägen ging die Fahrt los. Einer davon war mit Heu und Hafer für die Pferde voll beladen.

Es war ein sonniger Tag, als wir das Dorf mit Haus, Hof und Vieh verließen. Es war noch Schnee an den Straßenrändern. Meine Schwiegereltern und Schwägerin sind eine Weile neben dem Wagen hergelaufen, bis meine Schwiegermutter und Schwägerin auf einen Militärwagen aufstiegen, denn sie dachten, wir fahren alle in dieselbe Richtung. Aber somit trennten sich unsere Wege. Nur mein Schwiegervater war bei unserem Treck.

Die erste Rast oder Haltestation war nach 30 km. Wir wurden alle in einem Saal untergebracht. Eine Hebamme war auch da. Sie hat mich noch untersucht. Sie sagte, ich solle mich weiter ruhig verhalten, es wäre sonst alles in Ordnung. Am nächsten Tag ging es dann früh weiter. Wir fuhren zur Ostseeküste, damit wir über den Ostseekanal gehen konnten. Diesen erreichten wir spät am zweiten Abend. Unser Kutscher ist vor lauter Müdigkeit eingeschlafen, dadurch ging unser Wagen rückwärts. Ein Wächter bemerkte es und sprang gleich zu den Pferden. Er hatte alle Mühe, sie wieder vorwärts zu bewegen. Um Haaresbreite wäre unser Wagen in den Kanal gestürzt. Na, es ging noch mal gut.

Als wir dann drüben gut ankamen, ging es schnell weiter, denn der Russe war uns auf den Fersen. Es wurde noch mal kalt und es schneite. Somit machten wir bei einem Sägewerk Rast. Meinen Schwiegervater hatten wir bei uns. Er hat mich jeden Morgen mit heißem Kaffee und einem kleinen Schnaps versorgt, das tat so gut. Mein Schwiegervater ging ins Sägewerk, ins Büro, um sich aufzuwärmen. Da ist er dann eingeschlafen.

Inzwischen ging der Treck wieder weiter. Die alte Gutsfrau hat für mich jeden Morgen frische Milch besorgt. An einem Nebelmorgen waren wir 3 km vor Ostswine in einem Waldstück. Da hörten wir Flugzeuge. Plötzlich fielen Bomben auf die Stadt. Ein Glück, dass wir im Wald waren. Die Pferde wehrten, die Wägen rumpelten. Wir mussten schnell aus den Wägen raus. Die Männer hatten alle Mühe, die Pferde festzuhalten. Nach einer knappen Viertelstunde war dann wieder Ruhe. Aber wir konnten nicht weiter, weil die Stadt total kaputt war. Bis die Wehrmacht erst wieder die Hauptstraße ein klein wenig aufgeräumt hatten. Somit lagen wir drei Tage im Wald. Da bekam ich keine Milch von Bauern für meine Tochter, die alle zwei Stunden Hunger hatte. Zum Glück hatte ich genug Muttermilch.

Am 3. Tag ging der Treck wieder weiter. In der Stadt Ostswine sah es furchtbar aus. Ein Bild des Grauens. Eine kleine Reihe von Trecks waren kaputt. Menschen hingen an den Bäumen, kleine Kinder und Pferde lagen im Straßengraben. In einem Laden verteilte die Wehrmacht Brot und so musste ich auch hingehen. Ich konnte kaum laufen, aber wir brauchten Brot. Meine Schwester konnte mir kein Brot mitbringen, denn es bekam jeder nur eins.
Es ging wieder weiter, wir mussten über einen Fluss mit einer Fähre. Die brachte uns ans andere Ufer, da hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen. Die Fahrt ging wieder weiter in Richtung Lübeck. Bis dahin vergingen noch ein paar Tage.

Es waren nun schon 14 Tage nach der Geburt meiner Kleinen. Ich konnte mich die ganze Zeit nicht waschen und frische Wäsche anziehen. Dann kam ich in ein Haus, indem mir die Frauen ein Bad herrichteten. Die Männer in unserem Treck mussten mich ins Haus tragen, denn ich war ganz wund und konnte nicht laufen. Fast hätte ich ins Krankenhaus müssen.

Die Fahrt ging weiter um Lübeck herum nach Neumünster, da bekamen wir für eine Nacht Quartier in einem Kornspeicher. Kaum hatten wir uns am Abend das Lager gerichtet, da gab es Fliegeralarm. Dann mussten wir in den Keller. Die Stadt Kiel wurde bombardiert. Nach einer Stunde gingen wir wieder zu unserem Lager und legten uns hin. Aber kaum war Ruhe, da machten die Ratten über uns Radau. Meine Kinder und ich konnten die Nacht nicht schlafen. Morgens um 5 Uhr mussten wir gerichtet sein zur Weiterfahrt. In Teterow Krs. Mecklenburg blieben wir drei Tage. Da habe ich ein Pfarramt aufgesucht und habe meine Tochter auf den Namen Brigitte taufen lassen. Sie war 4 Wochen alt.

In Neumünster teilten sich unsere Trecks. Drei fuhren nach Eutin und drei nach Süderdithmarschen. Wir fuhren nach Süderdithmarschen, Itzehoe dann über den Nordostseekanal nach Brunsbüttel und zum Kronprinzenkoog. Da wurden wir zum Kaiser-Wilhelm-Koog eingewiesen. Somit waren wir 6 Wochen unterwegs gewesen.

Wir wurden in einem Bauernhaus untergebracht, das war der schwerste Augenblick in unserem Leben. Die zwei Bauersleute standen vor dem Haus und wollten uns keinen Einlass gewähren. So standen wir von morgens halb 11 bis mittags 17 Uhr draußen, bis der Ortsvorsteher kam und uns eingewiesen hat.
Wir waren zu sechst in einem Zimmer, indem wir kochen und schlafen mussten. Wir hatten uns bald eingelebt. Auch mit den Bauersleuten wurde es von Tag zu Tag besser. Sie hatten sich so an meine Kinder gewöhnt, sodass sie sie überall mitnahmen. Wir halfen dem Bauer bei der Feldarbeit, die Haupternte war Kohl, Zuckerrüben und große Weizenfelder.

Im April 1948 kam mein Mann aus französischer Gefangenschaft. Er konnte das raue Klima, wo wir wohnten, nicht vertragen. Somit war er oft erkältet. Mit meinen Eltern, die in Lensahn wohnten bei Eutin, standen wir immer in Verbindung. Vater ließ sich im Herbst 1949 nach Freiburg im Schwarzwald umsiedeln. Es wurden Handwerker gesucht, er bekam auch gleich als Maler Arbeit und bekam auch gleich eine Wohnung in Eschbach/St. Peter.

Nun ließ er seine Familie nachkommen. Meine Mutter schrieb mir, wir sollten uns doch auch umsiedeln lassen. Da reichten wir dann auch eine Umsiedlung ein und konnten dann anfangs Mai 1950 nach Freiburg ins Umsiedlungslager gehen. Mein Mann war auch immer auf der Suche nach einer Wohnung, bis er auch eine hatte. In Eschbach bei einem Bauernhof. Es war ja auch nur ein Zimmer, aber es war groß, sodass wir Platz hatten, bis ich dann mein viertes Kind bekam. Es war ein Junge. Er erblickte das Licht der Welt in Freiburg/BRSG am 9.2.1951. Als Frau M. 1952 aus der Mühle auszog, mussten wir dort hinüberziehen. Wir hatten es uns schön eingerichtet und wohnten 17 Jahre darin. Am 15.4.1967 zogen wir noch einmal um auch in Eschbach, zu Robert G. Meine Eltern wohnten bei A. im dritten Stock mir gegenüber. So konnte ich immer schnell mal rüber, wenn was los war.

Und kaum wohnten wir ein Jahr hier, war meine Mutter schon ernstlich krank, der Vater auch. Er starb am 12.5.1968 und meine Mutter folgte ihm bald und das war am 30.1.1969. Es war für mich eine harte Zeit, nicht des Leides genug, musste auch noch mein lieber Mann am 27.8.1969 sterben. Durch eine Spritze… es war bitter!

Meine vier Kinder sind alle verheiratet und wohnen in Freiburg und Umgebung. Am 1.6.1982 wohne ich dann 32 Jahre in Eschbach und werde mein Lebensende, so Gott will, hier beschließen.


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Ein Kommentar

  1. Danke Schwesterherz. Ich bin froh, daß wir diese Erinnerungen noch an unsere Oma bzw. Uroma haben. Solche Geschichten dürfen nicht vergessen werden, denn sie sind Zeitzeugen. Tante Anni und Oma haben immer wieder von den fürchterlichen Begebenheiten während der Flucht erzählt. Sowas darf nie wieder passieren.
    In Liebe
    Deine Schwester Petra 😘 ❤️

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