Kurzgeschichte - Das Graffiti

Es gab nichts, was Achim mehr hasste als diese Jugendlichen, die den ganzen Tag nichts weiter zu tun hatten, als ihn zu ärgern. So kam es ihm zumindest vor. Seit er Hausmeister war, tat er nichts anderes, als diesen Bengeln und ungezogenen Mädchen hinterher zu wischen und zu räumen. Kaum hatte er Schmierereien an der einen Seite des Hauses entfernt, prangte auf der anderen wieder eine Neue. Vom Aufzug ganz zu schweigen! Entweder waren die Lampen alle kaputt geschlagen, oder die Wände verschmiert, oder noch Schlimmeres. Aber das hier, an dieser Wand heute Morgen, war die Krönung! In leuchtend lila Buchstaben stand da geschrieben: ACHIM IST SCHWUL!

Schon seit Stunden kämpfte er darum, diese Schrift von dem weißen Putz abzubekommen. Es ging einfach nicht! Dann versuchte er, die Schrift zu überstreichen. Das kräftige Lila der Schriftzüge kam immer wieder durch.

»Na, Herr Winter?«, hörte er plötzlich die dröhnende Stimme von Herrn Masske aus dem ersten Stock. Achim erschrak zutiefst. Er hatte sich gewünscht, dass er die Schrift entfernen könnte, ehe die Hausbewohner es zu Gesicht bekämen, zumal da in leuchtender Schrift die Wahrheit stand. Die Wahrheit, für die er sich gerade jetzt wieder so schämte.

»Herr Masske, guten Tag auch.« Achim versuchte, sein freundlichstes Lächeln aufzusetzen, auch wenn es künstlich wirken sollte. »Da haben die Bengel ja mal wieder ganze Arbeit geleistet«, meinte Masske mit einer Kopfbewegung zur Wand hin. »Kinder halt!«, murmelte Achim und strich einfach weiter. Er hatte keine Lust, sich mit dem dicken Masske über Erziehungsmethoden zu unterhalten, da gerade dessen Sohn Tobias der Rädelsführer der Jugendlichen war. So dachte Achim zumindest.

»Also, wenn mein Bengel das machen würde, dem würde ich die Hammelbeine lang ziehen!«, dröhnte Masske, dass man es auf der Straße um die Ecke noch hören konnte. »Der würde den Tag verwünschen, an dem er geboren wurde.« Achim vernahm das typische Zischen einer Bierdose, die geöffnet wurde. Es lag ihm auf der Zunge, dem dicken Masske entgegen zu schleudern, dass es eben SEIN Bengel war, der hier seiner Meinung nach den meisten Schaden verursachte. Doch die Fahne, die Achim aus Masskes Mund jetzt um die Mittagszeit schon entgegenwehte, hielt ihn davor zurück.

»Das ist nichts, was man nicht wieder beheben könnte«, sagte er darum und wies mit der Malerrolle auf die Wand. »Na ja.« Masske lachte und hustete. »Müssen Sie wissen. Aber wenn Sie meinen Bengel mal dabei erwischen sollten, wie der hier irgendwas anstellt, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie mir das sagen. Den prügel‘ ich windelweich!«

Achim nickte nur und atmete tief durch, als sich Masske endlich schlurfend entfernte. Er ließ sich auf seine Leiter sinken. Es waren Tage wie diese, die ihn so mutlos machten, dass er am liebsten alles hingeworfen hätte. Doch wer würde ihm schon einen anderen Job geben? Er war knapp 50, hatte nichts gelernt und kannte hier auch niemanden. Und dann war er auch noch schwul! Er hatte so gehofft, hier in der Großstadt würde das niemanden interessieren. Doch scheinbar hatte er sich geirrt. Seit einigen Tagen fand er Drohbriefe in seinem Briefkasten und jetzt das hier. Irgendjemand wusste Bescheid und machte ihm das Leben zur Hölle. Und Achim war sich beinahe sicher, den Übeltäter zu kennen.

Mit einem tiefen Seufzer machte er sich daran, die Wandfläche zum sechsten Mal zu überstreichen. Während dieser Arbeit ging ihm durch den Kopf, warum er vor fünf Jahren entschieden hatte, in eine Stadt zu ziehen und anonym zu werden. Achim lächelte bitter. Das war kurz nach seinem „Outing“, wie man das zu Neudeutsch wohl nennt. Das war kurz, nachdem er seiner Frau gesagt hatte, dass er einen Mann liebte. Diese Einsicht kam für ihn beinahe genauso überraschend wie für seine Frau. Geahnt hatte er immer schon, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Aber dann lernte er Sven kennen und der macht keinen Hehl aus seiner Neigung. Mit ihm zog Achim in die Stadt, war zum ersten Mal richtig glücklich. Es passte einfach alles und es war ihm sogar egal, wenn die Leute hinter ihm und Sven her guckten oder dumme Kommentare abgaben. Er war glücklich an der Seite dieses Mannes, bis zu dem Tag, als es Sven immer schlechter ging. Es ging rasend schnell. Sven war HIV-positiv und hatte das Achim immer verschwiegen.

Nach seinem Tod lies Achim sich selbst testen und die Wartezeit auf das Ergebnis war für ihn die reine Hölle. Doch er war negativ! Keine Infektion. Achim löste die Wohnung auf und zog nach Hamburg. Hier würde es niemanden interessieren, wer oder was er war, dachte er. Er ließ sich auf nichts mehr ein, so sehr schmerzte ihn der Verlust seines Freundes noch. Er lebte wie ein Mönch. Niemand hatte den Anlass dazu bekommen, zu glauben oder zu ahnen, dass er „anders“ sei. Niemand. Und doch …

»Na Meister?«, hörte er plötzlich die Stimme von Tobias Masske von der Ecke her. Achim blickte sich um und sah den schlaksigen Teenager mit beiden Händen in den Hosentaschen jetzt auf ihn zukommen.

»Oh nein, nicht der auch noch!«, dachte Achim bei sich. Er selbst war zwar groß und kräftig, doch vor diesem Bengel hatte er einen Heidenrespekt.

»Mein Dad hat gesagt, dass hier wieder jemand rumgeschmiert hat.« Tobias stellte sich breitbeinig vor die Wand und las den Text, den man immer noch deutlich erkennen konnte.

»Tu nicht so!«, wollte Achim ihm entgegen brüllen, »Du weißt genau, was da steht!« Doch er schwieg. Am liebsten aber hätte er dem Jungen die Farbrolle in die Hand gedrückt und ihn die Wand so lange malen lassen, bis er seine Arme nicht mehr würde heben können. Doch auch das tat er nicht.

»Warum willst denn das wegmachen?«, fragte Tobias.

Achim wollte antworten: »Weil es nicht stimmt!« Doch das wäre eine Lüge gewesen. Stattdessen stellte er sich neben Tobias und stemmte die Hände in die Hüften.

»Weil die Farbe scheiße ist«, sagte er trocken und wunderte sich selbst über seine Schlagfertigkeit.

»Stimmt«, meinte Tobias. »Aber Lila ist doch die Farbe von Schwulen.«

»Wer behauptet das?«

»Das weiß man doch.« Der Junge kicherte.

»Ah, so! Na ja. Trotzdem ist es kein schönes Lila.«

»Gibt’s da denn Unterschiede?« Tobias sah den hünenhaften Mann neben sich aufmerksam an.

»Und ob!«, meinte Achim.

»Woher weißte denn das?«, kam die Frage und Achim bemerkte, dass der Junge neben ihm ernsthaft an einer Antwort interessiert war.

»Weil ich selber male«, gab er zu und fragte sich im gleichen Moment, was hier bloß geschah. Noch nie hatte er jemandem davon erzählt, dass er Bilder malte. Landschaften, Augenblicke, Menschen. Und dann kam dieser Bengel daher und schon war es passiert.

»WAS?« Tobias riss die Augen weit auf und sein Erstaunen war nicht gespielt. »Du malst? So richtige Bilder?«

Achim nickte. Es war ihm fast peinlich, dass ihm das herausgerutscht war.

»Hey – cool!« Tobias grinste breit. »So bunte Bilder, wie man die auch im Museum gucken kann?«

»Nicht ganz so tolle – aber immerhin.« Achim fragte sich, wie Tobias wohl in ein Museum gekommen wäre. Die ausgefransten Jeans, die Lederjacke, die Piercings und die bunten, langen Haare! Das alles wollte nicht in ein Museum passen. Aber vielleicht war er ja mal mit der Schule drin gewesen.

»Warst du schon mal in dem Laden um die Ecke?«, fragte Tobias, als könne er die Gedanken von Achim lesen.

»Nein? Ist da denn einer?« Achim war erstaunt, denn davon wusste er nun wirklich nichts.

»Ja, nicht grad so ein richtiges Museum aber – wenn du hier fertig bist, können wir ja zusammen mal da hin«, schlug Tobias vor. Achim spürte, dass es dem Jungen durchaus ernst damit war und insgeheim entschuldigte er sich für seine Wut bei ihm.

»Das würde ich mir gern mal ansehen«, meinte Achim und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. Tobias sollte nicht merken, wie erstaunt und berührt Achim von seinem Vorschlag war.

»Na, denn man zu.« Tobias grinste breit. Achim hatte für eine Sekunde den Verdacht, dass der Junge ihn linken wollte. Aber er verdrängte den Gedanken sofort und machte sich wieder an die Arbeit.

… zur Fortsetzung „Teil 2“


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