Obdachlosen-Schlafplatz unter einer Brücke

Jay zog den Pappkarton, auf dem er saß, etwas mehr an die Mauer heran. Er wollte so verhindern, dass dieser nass würde und somit aufweichen könnte. Heute war ein guter Tag gewesen. Er hatte in der Stadt einige Dollar erbetteln können, um sich mit Brot, Käse und etwas Obst einzudecken. Zudem gönnte er sich heute ausnahmsweise eine Flasche Gin. Er wollte sie sicher nicht austrinken. Eigentlich mochte er keinen Alkohol. Doch die Nächte waren inzwischen ziemlich kalt geworden und der Alkohol wärmte ihn ein wenig von innen.

Außer dem Geld hatte er noch einen warmen Parka von einem guten Menschen bekommen. In der Kleiderstube gab es dazu noch warm gefütterte Boots und Handschuhe sowie Mütze und Schal. Die Schuhe waren zwar eine Nummer zu groß, doch Jay nahm sich vor, dann mehrere Paar Socken anzuziehen, wenn die Nächte richtig frostig würden.

Es war sein erster Winter auf der Straße. Bislang waren die Tage sonnig, die Nächte warm gewesen. Jay wusste nicht, was auf ihn zukommen würde. Er war immer ein Mensch gewesen, der sich eigentlich um nichts Sorgen machen musste. Er hatte eine gute Ausbildung genossen und war auf dem Weg, ein Arzt zu werden. Sein Vater war ebenfalls Arzt und es war beinahe schon ein ungeschriebenes Gesetz, dass Jay irgendwann in seine Fußstapfen treten sollte. Das Studium hatte ihm Spaß gemacht und er hatte durchweg gute Noten, obwohl es ihm schwerfiel, sich mit Toten abzugeben. Er machte sich immer wieder bewusst, dass die Menschen, die er künftig behandeln würde, schließlich am Leben wären. Das machte für ihn den Unterschied. Es sollte kein Problem für ihn darstellen, alle notwendigen Prüfungen abzulegen und Jay freute sich schon auf die Zeit in der Praxis seines Vaters. Doch dann kam alles anders.

Jay öffnete die Flasche mit dem Gin, prostete in den pechschwarzen Himmel, den er über dem Fluss sehen konnte, und in die hellen Leuchtreklamen der nahe gelegenen Kleinstadt.

»Prost, Dad. Wo auch immer du jetzt bist!«, sagte er und trank einen Schluck. Die Flüssigkeit brannte in seinem Hals, doch gleich danach breitete sich von seinem Magen ausgehend eine leichte Wärme in ihm aus. Er lehnte sich an die Mauer des Brückenbogens und dachte an seinen Vater zurück. Keiner hatte vermutet, dass Aidan Frazer so schnell sterben würde, obgleich es Jay wie eine Ewigkeit vorkam, in der sein Vater immer mehr zerfiel. Jay glaubte, dass sein Dad wusste, dass er Krebs hatte und es ihm nur nicht sagte. Erst als es offensichtlich wurde, hatte er Jay mit der Diagnose konfrontiert. Von da an ging es stetig bergab. 1964 verstarb Aidan Frazer nach einem kurzen Kampf gegen die tückische Krankheit.

Es war nicht das Einzige, das Aidan Frazer seinem Sohn verschwiegen hatte. Er hatte auch keinerlei Vorsorge getroffen, was die Bezahlung der anfallenden Behandlungskosten anging. Jay tat alles in seiner Macht Stehende, um die Rechnungen zu begleichen.

Sein Vater war längst schon nicht mehr er selbst, als Jay die Praxis verkaufen musste, um die hohen Operationskosten zu bezahlen. Dann ging es Schlag auf Schlag und irgendwann stand Jay vor den Beerdigungskosten und dem absoluten Nichts. Er hatte daraufhin veräußert, was nur zu verkaufen ging, hatte lediglich für sich noch ein paar Kleinigkeiten aufgehoben. Aber auch die musste er letzten Endes hergeben. Vier Jahre kämpfte er um seine Existenz. Dadurch versäumte er immer mehr Vorlesungen. Schließlich konnte er seine kleine Studentenwohnung nicht mehr bezahlen, brachte die Gebühren für das Studium selbst nicht mehr auf und landete auf der Straße.

Das war im Frühjahr gewesen. Jay hatte immer noch gehofft, er könnte wieder einen Job finden und weiter studieren. Doch das klappte einfach nicht. Nun wurde es Winter. Sein erster Winter unter der Brücke.

Er hörte schleifende Schritte und sah die Uferpromenade hinunter. Er erkannte den näherkommenden Mann, der jetzt eine der hellen Straßenlaternen passierte, sofort und freute sich auf ein nettes Gespräch mit ihm. Als die Gestalt in Jays Rufweite war, winkte er und rief:

»Lust auf ein Schlückchen, Skinny?«

Der Mann hob den Kopf, erkannte Jay unter dem Brückenbogen und kam nun auf ihn zu. Er ging langsam und seinem Gang nach zu urteilen, schien er wohl sehr alt zu sein. Jetzt aber, wo er Jay fast erreicht hatte, konnte man erkennen, dass er etwa fünfzig Jahre alt sein mochte. Er war, genau wie Jay, in dicke Pullis und einen ebenso dicken Parka gekleidet. Auch seine Schuhe waren wohl ein paar Nummern zu groß, was zu diesem schlurfenden Gang beitrug. In seinen Händen trug er einige Plastiktüten und unter dem Arm hatte er einen Pappkarton geklemmt. Den legte er nun sorgfältig neben Jay, packte die Tüten wie eine Rücklehne an die kalte Mauer der Brücke und setzte sich. Jetzt sah er zu Jay hinüber und lächelte. Jay kannte dieses Gesicht so gut. Skinny war der Einzige gewesen, der sich um ihn gekümmert hatte, als Jay die ersten Nächte auf der Straße verbringen musste. Von ihm hatte er erfahren, wo die Suppenküchen waren, wo es sich zu betteln lohnte und wo man ungestört schlafen konnte. Skinny hatte ihm auch den Zugang zur Oberschicht ermöglicht. Ja, es gab auch im Bereich der Obdachlosen so etwas wie eine Oberschicht. Durch sein angefangenes Medizinstudium hatte Jay sich einen Platz unter der Brücke verdient. Die anderen nannten ihn Doc, obwohl er kein Arzt war. Doch allein das reichte schon aus, um ihm einige Privilegien zu sichern. Er konnte hin und wieder einem Bruder helfen, sei es bei einer Verletzung oder einem Ratschlag bei kleineren Krankheiten. Daher begegnete man ihm mit einem gewissen Respekt. Genau wie Skinny.

Skinny war in seinem früheren Leben, wie er es nannte, Rechtsanwalt gewesen. Er berichtete nie genau, wie er obdachlos wurde und wich jeder diesbezüglichen Nachfrage immer geschickt aus. Er lebte nun schon, so wie er erzählte, einige Zeit auf der Straße und konnte jemandem wie Jay, der neu dazu kam, gute Ratschläge geben.

Jay mochte den ruhigen Mann. Er konnte mit ihm gute Gespräche führen und spielte hin und wieder sogar mit ihm Schach im Park auf dem betonierten Spielfeld. Aber nur, wenn die Normalen nicht mehr im Park unterwegs waren.

Jay sah lange in Skinnys blaue Augen. Er wirkte müde. Skinny war, wie Jay auch, unrasiert. Er trug halblanges, braunes Haar, welches wegen der mangelnden Pflege völlig verfilzt schien. Auf dem Kopf trug er meist eine knallbunte Pudelmütze, die er nicht mal zum Schlafen abnahm. Sie war eine Erinnerung an sein früheres Leben, berichtete Skinny einst.

Jay fand, dass Skinny überhaupt nicht hässlich war. Selbst jetzt, in dem dicken Parka mit all dem Dreck auf der Kleidung und dem verfilzten Haar wirkte er irgendwie seriös. Seinen Spitznamen Skinny hatte der Mann daher, dass er wirklich nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Jay war im Sommer mit Skinny zum nahegelegenen See gegangen, um dort zu baden. Er hatte sich sehr erschrocken, als er Skinny zum ersten Mal ohne Kleidung …

… zur Leseprobe “Déjà-vu”


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