Lost Places

Die kleine Gruppe folgte Erik, der vorausging. Sie stolperten über etwas, was vor Jahren einmal eine Straße gewesen sein musste. Hier und da ragten aus dem hochgewachsenen Unkraut Teerstücke hervor. Teilweise konnte man sie kaum sehen und blieb mit den Füßen daran hängen. Nach geraumer Zeit tauchten sie dann endlich auf: Die Häuser, von denen Mike immerzu geträumt hatte. Es waren zwei Einfamilienhäuser, die jeweils eines links und eines davon rechts der Straße standen. Man hatte schon den Eindruck, in eine kleinere Siedlung hineinzugehen. Einige undefinierbare Ruinen waren zu erkennen. Beim näheren Hinsehen stellten sich diese Ruinen als zusammengefallene Garagen und Schuppen heraus. Es gab also definitiv nur zwei Häuser und keine ganze Siedlung. Die Häuser schienen begehbar, aber das, was in sich zusammengefallen war, hatte die Natur sich bereits teilweise wieder zurückgeholt.

Mike spürte seinen Herzschlag sogar im Hals. Er war so unendlich aufgeregt! Mit allen Sinnen versuchte er, die Eindrücke, die er gewann, in sich aufzunehmen. Langsam kam die Gruppe an den Häusern an. Sie standen sich fast genau gegenüber, getrennt nur durch diese völlig zerstörte Straße. Früher einmal mussten das richtig nette, gutbürgerliche Einfamilienhäuschen gewesen sein. Eine solide Nachbarschaft fernab vom Gedränge der Stadt, mit Grillfesten und allem, was so dazu gehörte. Vor seinem geistigen Auge sah Mike die Autos der Hausbesitzer an der Straße stehen. Kinder rannten herum, fuhren mit einem Roller, tanzen Gummitwist und spielten Ball. Vielleicht waren die beiden Familien, denen die Häuser gehörten, sogar miteinander verwandt? Das Bild, welches er sah, war so unendlich harmonisch! Als es sich vor seinen Augen auflöste, sah er die traurigen Reste dieser Idylle. Zwei Häuser inmitten von Ruinen, mit schadhaften Außenfassaden und verwucherten Gärten. Eines der zerfallenen Gartenhäuschen starrte ihn an. Die leeren Fensterlaibungen waren wie tote Augen und die Tür wie ein zum Schrei aufgerissener Mund. Dahinter gab es nichts als Geröll.

»Wo zum Geier sind wir hier?«, fragte Mike ergriffen. »Was ist hier bloß passiert?«

Neben sich hörte er das rhythmische Klicken des Auslösers von Pattys Fotoapparat.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er leise, »aber es ist unendlich geil!«

Erik steuerte auf das erste Haus zu und Mike folgte ihm. Es war das, welches auch Klara schon betreten hatte. Sie gingen durch einen total verwilderten Garten. Man konnte noch die Reste eines einfachen Holzzaunes sehen. Im hohen Gras lagen vier verrostete Eisenstangen, die offenbar mal eine Kinderschaukel getragen hatten. Mike konnte sich einfach nicht sattsehen. Zwischen all dem Unkraut hätte man bestimmt noch Kinderspielzeug gefunden, dessen war er sich gewiss. Erik allerdings hatte für all das kein Auge. Er ging schnurstracks auf einen Kellereingang zu und dann die Betontreppe hinunter. Er bewegte sich sehr sicher und erneut keimte in Mike der Gedanke auf, dass Erik mehr als nur ein Mal hier gewesen war.

Sie betraten den dunklen Kellerraum durch eine angelehnte Tür. Es roch fürchterlich.

»Boah«, machte Mike angewidert, »was ist das für ein Gestank?«

»Wahrscheinlich Sickergrube«, gab Erik zu verstehen, »oder das Zeug hier!« Er leuchtete mit der Taschenlampe auf einige Regale, die einst mit Einmachgläsern vollgestellt waren. Etliche davon waren zu Boden gefallen und ihr Inhalt verfault und vertrocknet. Mike konnte sich nur schwer vorstellen, dass ein so ekelhafter Geruch allein von verfaulendem Obst und Gemüse ausgehen konnte. Da schien ihm eine Sickergrube noch am glaubwürdigsten!

Erik ging weiter. Mike hatte inzwischen ebenfalls seine Taschenlampe hervorgeholt und leuchtete nun in die Kellerräume. Es gab Fahrräder, Autoreifen, einen alten Puppenwagen. In einem anderen Raum lagerten Brennholz und Kohle. Wäre die zentimeterdicke Staubschicht nicht gewesen, hätte man wirklich annehmen mögen, dass hier noch jemand wohnte. Mikes Neugierde auf die Wohnräume wuchs immer mehr. Er musste sich jedoch noch gedulden, da Erik es vorzog, eine alte Werkzeugkiste und einen Werkzeugschrank zu durchwühlen. Sie hatten ja versprechen müssen, nicht allein loszuziehen. Offenbar glaubte Erik, dass Mike und Patty ebenfalls nur hinter Wertsachen her waren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit gingen sie endlich die Treppe nach oben in das Erdgeschoss. Selbst hier konnte man noch den fauligen, widerlichen Geruch aus dem Keller wahrnehmen. Mike zog sich sicherheitshalber das Halstuch, das er bei solchen Exkursionen immer trug, über Mund und Nase. Gesund war das, was hier in der Luft schwebte, mit Sicherheit nicht! Patty tat es ihm gleich. Michael und Rafael trugen so etwas nicht und hielten sich die Hände vor den Mund. Erik schien der Gestank nicht zu kümmern. Er stapfte durch den ehemaligen Flur und kurz darauf standen alle Mann in der Küche.

Es war, wie Klara es beschrieben hatte: Eine Küche aus früheren Jahren mit einem alten Kohleherd, alten Küchenschränken, einem Tisch und einer Spüle. Auf dem Herd stand der Topf, den Klara ebenfalls erwähnt hatte, und in der Spüle drei Suppenteller nebst Löffeln.

»Cool, was?«, fragte Erik stolz, als wäre das alles hier sein Eigentum. »Hey, willst du richtig geniale Fotos machen? Dann dekorieren wir!«

Mikes Einwand, das sein zu lassen, ignorierte Erik. Er stellte die Teller aus der Spüle auf den Tisch, packte die verpichten Löffel und den Topf vom Herd dazu. Dann stellte er die Stühle so, als wären die Menschen gerade vom Essen aufgestanden und hätten den Raum verlassen. Mit dieser Aktion vernichtete er allerdings das eigenartige Gefühl, das Mike eben noch gehabt hatte. Bis vor wenigen Minuten standen die Dinge noch so, wie sie die Menschen, denen das Haus einst gehörte, offenbar hingestellt hatten. Er hatte noch ihre Energie spüren können, hatte sich ein Bild machen können, wie die Hausherrin hier in der Küche zugange war. Jetzt war das alles zerstört.

Patty knipste ein Foto und Mike machte sich sofort daran, alles wieder an seinen ursprünglichen Platz zu stellen. Erik war inzwischen nach draußen gelaufen und saß auf der alten zerbröckelnden Gartenmauer. Er hatte eine Stofftasche in den Händen und sah hinein, schüttelte den Kopf und kam wieder in das Haus zurück. Als er in der Küche ankam, sah er, dass Mike seine Dekoration wieder rückgängig gemacht hatte. Er zuckte die Schultern, zog sämtliche Schubladen auf und wühlte darin herum. Wenn etwas herausfiel, ließ er es einfach auf dem Boden liegen. So auch eine alte Brille, auf die er sogar noch drauftrat und die unter seinen Füßen knirschend zersprang.

»Mensch! Pass doch auf!«, rutschte es Mike heraus.

»Was?! Was willst du?«, fauchte Erik ihn sofort an. »Der alte Scheiß hier kümmert eh niemanden mehr!«

Patty griff Mike am Arm und schüttelte den Kopf. Er wusste sehr genau, was in seinem Freund gerade los war und er verstand es so gut. Es war einfach nicht ihre Art, in den Sachen fremder Leute herumzuwühlen und auch er musste sich sehr zügeln, um Erik nicht eine zu verpassen!

Offenbar war in den Schränken und Schubladen nichts Wertvolles zu finden. Mürrisch geleitete Erik nun Patty und Mike in das Wohnzimmer. Auch hier waren alle Schubladen aus der altertümlichen Wohnwand herausgezogen und durchwühlt worden. Das sah man auf den ersten Blick. Hinter den Glasfenstern des Schrankes standen kleine Porzellanfigürchen, die Mike sofort zuordnen konnte. Erik dachte wohl, sie wären wertlos, was sie aber nicht waren. Ganz im Gegenteil! Es waren sehr seltene Figuren einer ehemaligen hiesigen Manufaktur, die unter Liebhabern hoch gehandelt wurden. Dass Erik ihren Wert nicht kannte, entlockte Mike ein sanftes Lächeln. Er wollte ein Foto davon machen. Das war schwierig, denn die Glasscheiben des Buffets waren vor Schmutz fast blind. Als Erik Mikes Bemühung wahrnahm, riss er die Glastür des Schrankes auf und nahm eins der Figürchen in die Hand.

»Niedlich!«, kommentierte er und packte nun alle auf den Wohnzimmertisch.

»Jetzt kannst du den Schrott fotografieren«, sagte er dazu und glaubte offensichtlich, Mike einen Gefallen getan zu haben. Mike stöhnte auf …

… zur Leseprobe “Jonas”


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