Jaimie Douglas

Sady sah zur Eingangstür des Hotels hin und lächelte. Lead wusste augenblicklich, dass die Person, die dort stand, Sady sehr viel bedeutete.

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Sady zu Lead gewandt und ergänzte: »Das ist Jamie. Der Wildhüter!«

»Woher weiß der denn jetzt schon von dem toten Reh?«, wunderte sich Lead. Sady hörte das nicht mehr. Sie ging, nein sie schwebte zum Eingang, um Jamie zu begrüßen. Lead ahnte nun auch, dass sein Vorhaben, Sady mit Chris zu verkuppeln und so in die Staaten zu befördern, niemals gelungen wäre. Er folgte Sady und verstand auch sofort, warum sie so verzückt reagiert hatte.

Jamie Douglas war hochgewachsen. Er passte von Statur und Aussehen eher in ein kanadisches Holzfällercamp als hier nach Schottland. Er trug Jeans, klobige Schuhe und eine karierte, mit Schaffell gefütterte Jacke. Sein lockiges, braunes Haar fiel widerspenstig in seine Stirn. Er trug einen gepflegten Bart, hatte braune Augen und ein offenes Lächeln, als er Lead erblickte. Seine Hand, die er ihm entgegenstreckte, war riesig! So kam es Lead zumindest vor.

»Sind alle Männer hier solche Schränke?«, rutschte es Lead heraus, als er Jamie begrüßte. Sady lachte auf.

»Nein, nicht alle«, grinste sie und himmelte Jamie weiter unverhohlen an.

»Sie sind also einer der Hotelgäste, von denen Sady mir erzählte«, griente Jamie und überging so elegant Leads dümmlichen Spruch von eben.

»Ähm, ja«, bestätigte dieser und stellte sich vor. Inzwischen war auch Jim aus dem Kaminzimmer in den Flur gekommen. Er war immer noch in die Decke gehüllt, blieb im Türrahmen stehen und nickte nur kurz in Jamies Richtung, während Lead die beiden miteinander bekannt machte.

»Was führt dich hier her?«, fragte Sady nun und bat Jamie herein.

»Der Sturm. Ich dachte, ich sehe mal nach dir«, antwortete Jamie und zog die dicke Jacke aus. »Alles in Ordnung, so hoffe ich doch? Oder sind wieder ein paar Dachziegel heruntergefallen?«

»Ich denke nicht«, flötete Sady und führte Jamie und die Amerikaner in den Speiseraum, indem sie weiterplapperte: »Ich mach uns mal einen Kaffee. Den kannst du sicher gebrauchen!«

»Auf jeden Fall«, grinste Jamie und sah Sady hinterher, als sie in die Küche ging.

»Wie gefällt es euch hier denn so?«, fragte er kurz darauf Lead, der sich nun ebenfalls an den Tisch setzte. Chris und Jim taten es ihm gleich.

»Ganz gut«, sagte Lead und brachte mit einem bösen Blick Jim zum Schweigen, der soeben den Mund aufmachen wollte.

»Na ja, das Haus ist schon was Besonderes«, sagte Jamie. »Ich weiß gar nicht, wann das erbaut wurde. Wulfwood gibt es schon, seit ich denken kann.«

»Ein wenig mehr Luxus täte dem Kasten aber keinen Abbruch«, unkte Chris.

»Ich finde, gerade das macht den Charme dieses Hauses aus«, hielt Lead sofort dagegen.

»Möchtest du mit uns zu Abend essen oder musst du gleich weiter?«, fragte Sady von der Küchentür her.

»Essen wäre großartig!«, freute Jamie sich und rieb seine Hände aneinander. Lead bemerkte, wie Jim diese Pranken anstarrte, und trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein.

»Der hatte genauso Pranken wie du, Jamie!«, platzte es trotzdem aus Jim heraus und Jamie sah ihn fragend an:

»Wer?«

»Ach, Jimmy hatte einen klitzekleinen Blackout. Zu viel Alkohol«, versuchte Lead, die Situation noch umzukehren. Jamie ging nicht darauf ein und Jim redete einfach drauflos:

»Der Mann, den ich bei dem toten Reh gesehen habe!«

»Ein totes Reh?«, wunderte sich Jamie. Indessen war auch Sady aus der Küche herübergekommen und fragte:

»Bist du nicht deswegen hier?«

»Nein, ich sagte doch, dass ich nach dem Rechten sehen wollte. Von einem toten Reh ist mir nichts bekannt. Was hast du denn da bei dem Tier gesehen?« Die Frage war wieder an Jim gerichtet, der sich aufrecht hinsetzte und Jamie nun erzählte, was er gesehen hatte.

»Er glaubt, dies gesehen zu haben«, fiel Lead ihm ins Wort.

»Ich habe es gesehen!«, giftete Jim sofort zurück.

»Aber nicht, wie der Kerl das Tier gerissen hat, stimmt´s?«, entgegnete Lead. Jim schwieg.

»Wo ist es?«, fragte Jamie nur und schaute fragend in die Runde.

»Ich geh da nicht mehr hin«, muckte Jim und verkroch sich wieder in seiner Decke, als ob diese ihn vor allem Bösen der Welt schützen könnte. Lead stand auf und holte seine Jacke sowie Sadys Schirm.

»Mach du derweil das Abendessen fertig. Wir sind gleich wieder da!« Das sagte er zu Sady und wies Jamie mit einer Kopfbewegung kurz darauf an, ihm zu folgen.

»Erzähl mir jetzt bloß keine Ammenmärchen«, sagte er zu Jamie, während sie zu dem toten Reh gingen.

»Was für Ammenmärchen?« Jamie schien überrascht. Lead blieb abrupt stehen und sagte:

»Sady hat auch schon so was verlauten lassen, dass es hier tatsächlich so eine Gestalt geben soll, die Tiere mit den bloßen Händen tötet.«

»Und?«

»Was und? Nichts und! Das sind Hirngespinste! Das wird ein Wolf gewesen sein und wenn da jemand bei dem Reh war, dann sicher nur um nachzusehen, was der armen Kreatur widerfahren ist!«

Jamie schwieg. Lead ging einfach wieder weiter. Als sie bei dem toten Tier ankamen, ging Jamie in die Hocke. Er untersuchte es und stellte irgendwann fest:

»Wie bei allen Kadavern, die ich bislang gefunden habe. Es ist alles da. Magen, Darm, Leber. Nur das Herz fehlt!«

»Hä?«, machte Lead und beugte sich herab. »Was fehlt?«

»Das Herz!« Jamie richtete sich auf und sah sich um, während er erklärte:

»Alle toten Tiere, die bislang gemeldet und so zugerichtet wurden, haben eines gemeinsam. Alle Innereien waren noch vorhanden, bis auf das Herz.« Er sah Lead an und fragte: »Meinst du vielleicht, dass es Wölfe gibt, die die ganze Beute bis auf das Herz verschmähen?«

Lead blieb stumm. Jamie sah auf das tote Reh hinab und sagte:

»Entweder wir lassen es hier liegen und riskieren, dass dein zartbesaiteter Freund erneut auf den Kadaver trifft, wenn die Natur dabei ist, ihr Werk zu vollenden. Oder wir vergraben es!«

»Ich möchte mir nicht vorstellen was mit Jim passiert, wenn der einen halb verwesten Tierkörper vorfindet! Er kommt mit Sicherheit noch einmal hierher, allein schon aus Neugierde. Selbst wenn er weiß, dass er den Anblick kaum ertragen wird! Also vergraben!«, bestätigte Lead.

»Ich hole eine Schaufel. Warte du hier und halte den Schirm schön hoch, damit ich dich wiederfinde«, witzelte Jamie und ging zum Hotel zurück. Lead blieb bei dem Reh und starrte in dessen gebrochene Augen. Er war nicht der Typ, der sich fürchtete. Ganz und gar nicht. Doch die beklemmenden Geräusche aus dem Wald und das sonore Rauschen des Regens auf den Blättern erzeugten selbst bei ihm eine Gänsehaut. Irgendwann hörten sich die Regentropfen sogar so an, als würde jemand flüstern. Lead atmete erleichtert auf, als Jamie mit einer Schaufel, einem Spaten und einer besseren Taschenlampe zurückkam.

»Na denn!«, seufzte Jamie und fing zu graben an. »Wir müssen uns wohl unser Abendbrot verdienen, was? Das Loch muss tief genug sein, damit die Wildtiere den Kadaver nicht wieder nach oben zerren«, sagte er. Lead half ihm nach anfänglichem Zögern. Es regnete wieder stärker und in wenigen Minuten waren beide Männer pitschnass. Als sie endlich den Tierkörper in das tiefe Loch legten und die Erde darauf schaufelten, atmete Lead erleichtert auf. Jamie legte noch einige schwere Steine auf die Stelle und betrachtete dann sein Werk.

»Normalerweise hätte ich es liegen lassen«, sagte er zu Lead. »Das Aufräumen hätten Krähen und andere Aasfresser besorgt. Wenn ich allerdings an deinen Freund Jim denke, dann ist es so definitiv besser!«

»Auf jeden Fall!«, bestätigte Lead sofort. »Und jetzt lass uns wieder ins Haus …

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