Waldweg in den Vorlanden von Ghoromari

Den folgenden Vormittag verbrachte ich mit Nadis. Sie erzählte mir von meinem Vater. Ich erfuhr, dass er eine sehr feine Art von Humor hatte und dass er, als Nadis sich ihm nicht öffnen wollte oder konnte, ihr versprochen hatte, so lange zu warten, bis sie eines Tages die richtigen Worte aussprechen würde. Jene drei Worte, die auch mir so schwergefallen waren, als ich sie zu Arjo sagte.

»Ich war noch so jung, als ich zum ersten Mal bemerkte, dass er mich gerne sah«, erzählte sie. »Ich wusste noch nicht, was ich mit meinem Dasein anfangen wollte und fühlte mich einfach zu unreif, um mich zu binden. Aber dein Vater war hartnäckig, sogar bis nach seinem Tod ließ er mich nicht los. Ich fand einfach keinen Mann, der aufmerksamer und geduldiger mit mir war.«

Ich verstand sie so gut, war es mir mit Arjo doch ähnlich gegangen. Und ich begriff nun auch, warum sie mir damals so zugeraten hatte, endlich auf Arjo zuzugehen.

»Dein Vater hätte mir alle Zeit gelassen, die ich gebraucht hätte. Allerdings kam dann der Tag, an dem seine Zeit abgelaufen war. Ich bin lange über diesen Verlust nicht hinweggekommen. Als man mir dann auch noch sagte, dass ich sein Kind austragen und gebären sollte, wo er doch bereits schon im Reich der Toten weilte, hatte ich darüber nachzudenken. Schließlich willigte ich ein, nachdem mir ein Wissender zur Seite gestellt worden war, der nach außen hin mein Gefährte sein sollte und das Kind, das ich austrug, als seines ausgab.«

»In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, gibt es viele alleinerziehende Mütter. Warum hast du dich an diesen anderen Mann gebunden? Ist es hier nicht gern gesehen, wenn Frauen ihre Kinder alleine erziehen?«

»Das war nicht das Problem, Majihari!«, lachte Nadis auf. »Das Problem war, dich vor Sighjils Nachforschungen zu schützen. Da bis dahin niemand wusste, dass Garigh auf mich wartete, konnte zunächst niemand meine Schwangerschaft und die Geburt mit ihm zusammenbringen. Erst, als du dein schwarzes Haar verlorst und das nachwachsende genauso flammend rot wurde wie das deines Vaters.«

Nadis wurde für einen Moment sehr still, ehe sie weitersprach: »Deine Ähnlichkeit mit Garigh war frappierend, selbst, als du noch ein winzig kleines Kindchen warst. Hätte Sighjil dich zu Gesicht bekommen, hätte er sofort gewusst, wessen Tochter du bist. So mussten wir entscheiden: Entweder wir würden es riskieren, dich hierzubehalten und damit deinen Tod besiegeln, oder wir gaben dich weg. Weit weg.«

Nadis schwieg erneut und wischte sich kurz über die Augen.

»Damals, als man dich wegbrachte, war ich mir so sicher, das Richtige zu tun. Aber dann habe ich dich jeden Tag, jede Stunde vermisst. Die ersten Jahre waren grausam. Es gab einen Funken Hoffnung, den ich im Herzen trug, und der mir sagte, dass ich dich irgendwann wiedersehen würde. Irgendwann. Als Nauhrjad mit der Neuigkeit kam, dass Arjo womöglich Garighs Tochter, mein Kind gefunden hätte, bin ich fast verrückt geworden! Es war ein Wunder und du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich deinem Mann bin!«

»Das bin ich auch«, gestand ich leise und ergriffen.

»Arjo wusste ja nichts von alledem. Er spürte nur diese Kraft in dir und folgte seinem Bauchgefühl, seiner Intui­tion.«

»Aber wusstet ihr nicht, in welchem Jahr ich mich aufhielt?«

Nadis schüttelte auf meine Frage hin den Kopf.

»Man hat es mir nie gesagt, um mich und dich zu schützen. Und die, die dich einst fortgebracht haben, sind nicht zurückgekommen.«

»Wer waren sie?«, bohrte ich neugierig nach.

»Es war ein Paar. Gesjia und Heram. An ihre Namen erinnere ich mich noch so gut.«

»Gesa und Hermann!«, rief ich aus. Das waren die Namen meiner Eltern! Nadis sah mich verwundert an.

»Meine Stiefeltern, bei denen ich aufwuchs!« Meine Stimme zitterte und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

»Du meinst, sie haben dich aufgezogen? Sie sind bei dir geblieben?« Nun schien auch Nadis die Fassung verloren zu haben. Ich nickte.

»Das glaube ich! Das glaube ich sogar felsenfest, nachdem was du eben sagtest!«

»Leben sie noch?«

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Mein Herz wurde schwer wie Blei und mir wurde bewusst, dass die beiden Menschen, die mich erzogen und mein Leben begleitet hatten, Menschen aus Ghoromari gewesen waren! Wie sehr mussten sie mich geliebt haben, wenn sie diese wundervolle Zeit hier zu tauschen bereit gewesen waren, um ein fremdes Kind wie ihr eigenes zu erziehen. Das alles zudem noch in einer Zeitzone, in der sie aller Wahrscheinlichkeit viel früher sterben mussten, als wenn sie hiergeblieben wären!

»Ihr Götter!«, seufzte Nadis. Genau in diesem Moment öffnete Arjo die Tür und sah erst mich und dann Nadis erstaunt an. Ich flog in seine Arme und berichtete ihm stockend und unter Tränen von meiner Vermutung.

»Ich denke wirklich, dass meine Stiefeltern diese beiden Menschen waren. Sie waren von hier, aus Ghoromari, Arjo!«

Arjo streichelte meine Wangen und schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er wandte sich an Nadis und fragte:

»Und diese beiden sind nie wieder hierher zurückgekehrt?«

Nadis schüttelte den Kopf. »Wir gingen damals davon aus, dass sie vielleicht verunglückt wären. Wir hatten noch erfahren …

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