Treppe in einer alten verfallenen Villa

Es musste wohl zum Brüllen komisch ausgesehen haben, wie Annie mitten in der Bewegung erstarrte. Sie hielt beide Hände grotesk verdreht über dem Kopf und starrte Rory an, als säße tatsächlich ein Geist vor ihr.

»Mach die Hände runter. Es starren schon alle herüber«, zischte Rory in den Kaffeebecher, den er zum Mund führte. Annie lies die Hände sinken und wurde knallrot im Gesicht, als sie gewahr wurde, dass die Blicke des ganzen Büros auf sie gerichtet waren.

»Was hast du eben gesagt?«, flüsterte sie nun und beugte sich nach vorn. Es war vollkommen unnötig, in dem Glaskasten zu flüstern. Das Ding schien hermetisch abgeriegelt zu sein, und selbst wenn Annie laut gesungen hätte, hätte man es draußen kaum gehört.

»Du sollst die Hände runternehmen«, antwortete Rory.

»Das meine ich nicht, das vorher. Letzte Nacht!«

Rory schwieg zunächst, trank den Kaffee aus und sagte dann:

»Darüber sollten wir hier nicht reden, glaube ich. Ich werde jetzt mal zu Baxter gehen und ihm guten Tag sagen. Wenn du möchtest, können wir uns ja heute Abend bei dir treffen und darüber reden.«

»Worüber reden? Was hast du angeblich gesehen?« Annie flüsterte immer noch.

»Ich sagte doch, wir sehen uns heute Abend, okay? Das hier ist nicht der richtige Ort, um solche Dinge zu bereden!« Mit einem eleganten Schwung landete Rorys Kaffeebecher in Annies Mülleimer. Während er daraufhin durch das Büro in Richtung Baxters Schreibtisch ging, starrte Annie ihm hinterher, als sei er wirklich ein Geist. Sie registrierte auch nicht, dass Molly in ihr Büro kam. Erst als es Annie schwerfiel zu atmen, wurde sie sich dessen bewusst. Molly trug jeden Tag das gleiche Parfum und das wohl schon Jahre lang. Darum merkte sie sicher auch nicht mehr, wie viel sie sich davon überschüttete. Es war einfach viel zu viel und es reizte Annie zum Niesen.

»Ist das der Neue?«, fragte Molly und drapierte sich lasziv auf Annies Schreibtischecke. Annie mochte Molly nicht besonders. Sie war eine der Mitarbeiterinnen, die es weniger durch Arbeit und Intelligenz denn durch ihre weiblichen Reize, die sie gekonnt ausspielte, an einen der begehrten Schreibtische des Verlages geschafft hatte.

Rory stand bei Dan Baxter und konnte genau in Annies Glashütte sehen. Was er dort zu betrachten bekam, sollte einem Mann schon recht weiche Knie machen. Molly streckte ihre langen Beine und überschlug sie nun äußerst gekonnt. Ihre grellroten Lippen und ihr Lächeln waren ein einziges Versprechen. Ebenso ihre Oberweite, die sie nun mit einem Hohlkreuz nach vorn herauswölbte. Ihre blonden Locken umspielten das üppig geschminkte Puppengesicht. Manchmal fragte Annie sich, wie Molly wohl ungeschminkt aussehen würde und ob sie diese dann wiedererkennen könnte, sollte sie ihr einmal ohne die Tonnen an Make-up begegnen. Annies Blick glitt zu Baxters Schreibtisch und sie sah genau, wohin Rory gerade starrte, was Molly mit einem langsam an den Mund geführten Zeigefinger quittierte. Es war schon ein wenig Wut, die in Annie hochkochte. Obwohl sie keinerlei Besitzrechte an Rory hatte, so wollte sie es einfach nicht hinnehmen, dass eine wie Molly sein nächstes Opfer sein sollte. Seinen Blicken nach zu urteilen war das aber schon ausgemacht!

»Ja, das ist er!«, antwortete sie nach einer kleinen Ewigkeit betont gleichgültig.

»Und wie heißt er? Was macht er so?«

»Keine Ahnung«, maulte Annie und kramte auf ihrem Schreibtisch, als hätte sie eine Menge zu tun.

»Komm schon! Du hast doch mit ihm geredet! Was sagt er so?«, quengelte Molly nun.

»Dass er zu Baxter wollte. Das hat er gesagt!«

»Und?«

»Was, und?«

»Ja, und. Lass dir doch nicht jeden Popel aus der Nase ziehen. Ihr habt euch doch gut unterhalten hier! Hat man doch gesehen!«

»Wir haben nur über den Job gesprochen und nun lass mich arbeiten!«, nieste Annie.

»Gesundheit. Okay, ich verschwinde schon. Mal sehen …«, sprach Molly und tänzelte auf ihren hohen Hacken aus dem Glaskasten. Annie sperrte die Tür mit dem Besucherstuhl weit auf in der Hoffnung, dass der penetrante Parfumgeruch bald verschwinden würde. Sie war wütend und musste sich nun eingestehen, dass sie sogar ein wenig eifersüchtig war. Auf der Toilette schaute sie lange in den Spiegel und überlegte, was wohl reizvoll an ihr sein könnte. Sicher, sie könnte sich auch besser schminken, mit Push-ups arbeiten und enge Klamotten tragen. Aber das war sie nicht. Annie war Annie. Praktisch, pflegeleicht und überhaupt nicht aufgesetzt. Sie musste plötzlich grinsen, als sie daran dachte, wie Rory wohl erschrecken würde, wenn er morgens neben Molly aufwachen sollte. Er selbst wäre farbverschmiert und würde in ein Gesicht blicken, das er nicht erkannte. Jetzt musste Annie sogar lachen! Nein, auch für einen Kerl wie Rory würde sich Annie nicht verbiegen. Und außerdem: Hatte er sich nicht für den Abend wieder bei ihr eingeladen? Also, wer war nun der Sieger, Molly Patterson!

Etwas beschwingter ging Annie nun ihrer Arbeit nach. Bis sie irgendwann den Zettel mit diesen komischen Zahlen erneut in den Händen hielt. Sie hatte ihn gedankenverloren morgens in ihre Hosentasche gesteckt.

»Koordinaten!«, flüsterte sie und versuchte nun herauszufinden, wie man diese im Internet eingeben konnte. Nach einer Ewigkeit hatte sie es ausfindig gemacht und starrte auf die Satelliten-Landkarte auf ihrem Bildschirm. Da gab es nichts, nichts außer einem Wäldchen und einem kleinen Fischerdorf. Plötzlich hatte Annie ein Déjà-vu. Es war ihr, als hätte sie genau dieses Bild schon einmal gesehen. Genau dieses Wäldchen mit genau dem kleinen Dörfchen links davon! Es waren vielleicht nur fünfzehn Häuser, die man erkennen konnte. Sie zoomte näher heran und stellte fest, dass das Dörfchen wohl verlassen sein musste. Die Häuser schienen verfallen. Sie erweckten nicht den Anschein, dass dort noch jemand wohnen könnte.

Annie scrollte zurück zu dem Wäldchen und zoomte auch dort näher heran. Doch man konnte außer üppigem Blattwerk nichts erkennen. Vielleicht hingen die Koordinaten mit dem Dorf und nicht mit dem Wald zusammen? Aber wie zum Henker – nein! Sie schüttelte energisch den Kopf. Es gab niemanden, der ihr diese Daten im Traum hätte übermitteln können und wenn, dann bitte: Warum? Wer? Wozu?

Wieder zoomte sie das Dörfchen auf ihren Bildschirm und erschrak fast zu Tode, als sie Rorys dunkle Stimme hörte:

»Scully!«

»Was?!«, fuhr Annie hoch und warf fast ihren Kaffeebecher vom Schreibtisch.

»Der Ort da, Scully!«, wiederholte Rory nun und wedelte mit der rechten Hand vor seinem Gesicht, als hätte er einen sehr üblen Geruch aufgenommen. »Himmel, was stinkt hier denn so?«

»Molly!«, antwortete Annie nur knapp, um gleich darauf zu fragen …

… zur Leseprobe “Amerika”


Diese Leseprobe teilen: