Geister Energiefeld

Terry ging viel später als Sean zu Bett. Sie hatte sich in Jeffersons Unterlagen einen Überblick verschafft und festgestellt, dass es tatsächlich nicht mehr viel Aufwand bedurfte, um die Steuererklärung fertigzustellen. Nun kannte sie auch Mikes genaues Alter und wusste, dass er nie verheiratet gewesen und dass er durchaus vermögend war. Es war mehr, als sie unter normalen Umständen jemals aus ihm herausbekommen hätte. Dessen war sie sich sicher und darum schlief sie auch mit einem zufriedenen Lächeln ein. Selbst ihr schwach rebellierendes Gewissen beunruhigte sie nicht. Sie dachte an den Tag, den sie mit Mike verbracht hatte und auch an das gemeinsame Kochen, das so harmonisch abgelaufen war, wie sie es sich mit Sean immer gewünscht hatte.

Es war wieder dieses Wimmern und Jammern, das sie aus ihren Träumen riss. Diesmal aber war es lauter als in der Nacht zuvor. Terry versuchte einfach nicht darauf zu reagieren und hielt ihre Augen fest geschlossen. Sie verkrampfte sich unter der Bettdecke, krallte die Finger fest hinein, als ob sie Angst davor hätte, etwas oder jemand könnte das schützende Tuch plötzlich wegziehen. Sie lag von Sean abgewandt und wusste nicht, ob er ebenfalls wach war und auch dieses Weinen hören konnte. Ihr Atem ging flach. Sie fürchtete sich, denn das Heulen wurde immer lauter, bis es schließlich direkt an ihrem Ohr war. Es musste aufhören! Sofort! Es war unerträglich! Terry riss ihre Augen auf und starrte in das leichenblasse Gesicht einer jungen Frau mit wirrem blondem Haar. Sie schwebte waagerecht neben Terrys Bett dicht vor ihrem Gesicht und starrte Terry mit großen leblosen Augen an. Der Schrei, der Terry entfuhr, musste noch im nächsten Ort zu hören gewesen sein. Es waren nur Sekundenbruchteile, ehe diese Erscheinung mit einem lauten Zischen gleich nach Terrys Schrei blitzartig verschwand.

»Bist du nun völlig übergeschnappt«, maulte Sean neben ihr und drehte sich zu Terry um, die im Bett hockte und wie Espenlaub zitterte.

»Keine Minuten länger!«, japste Terry aufgelöst. »Ich bleibe hier keine Minute länger!«

Sean erschrak offenbar über den Anblick, den sie ihm bot. Es war, als wäre alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen. Ihr Körper bebte, die Hände hielten die Bettdecke krampfhaft gegen ihren Oberkörper gepresst.

»Um Gottes willen, Terry!«, flüsterte Sean und versuchte, sie in den Arm zu nehmen. Es gelang ihm nicht.

»Hier spukt es«, rief sie laut und stand auf. »Ich habe es von Anfang an gesagt, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Sie war direkt vor meinem Bett. Vor meinem Gesicht!«, schrie Terry wie von Sinnen.

»Wer denn um Himmels willen? Hier ist wirklich niemand, Terry! Beruhige dich doch!«

»Da war eine Frau. Eine blonde Frau. Und sie war tot!«

Sean stand nun ebenfalls auf und versuchte erneut, Terry in die Arme zu schließen, um sie zu beruhigen. Kurz wehrte sie sich, indem sie mit beiden Fäusten gegen seine Brust trommelte. Dann sank sie weinend gegen ihn.

»Terry, du hast geträumt«, sprach Sean leise auf sie ein.

»Habe ich nicht«, schluchzte Terry an seiner Schulter. »Sie war da. Direkt vor mir.«

»Wir gehen nach unten, ja? Da trinken wir etwas und du erzählst mir was los war, okay?«

Willenlos ließ Terry sich ins Wohnzimmer führen. Sie trank einen doppelten Whisky in einem Zug herunter und hustete.

»Nun mal der Reihe nach«, sagte Sean und schenkte ihr noch etwas nach. Er war ernst und gefasst. Zumindest wirkte er so auf Terry.

»Ich habe dieses Weinen wieder gehört. Diesmal aber laut. Richtig laut. Direkt an meinem Ohr. Und als ich die Augen aufgemacht habe, war sie da und starrte mich an.«

»Die blonde Frau?«

»Das sagte ich doch. Ihr Haar war total zerzaust und sie war definitiv tot.«

»Aber sie hat dich angestarrt?« Terry merkte, dass Sean ein Lachen unterdrücken musste.

»Du machst dich über mich lustig, ja?«, knurrte sie ihn an.

»Nein, natürlich nicht. Aber du musst zugeben, dass eine Tote wohl kaum jemanden anstarren kann, oder?« Sean schenkte sich ebenfalls noch etwas ein und setzte sich auf die breite Armlehne des Sessels, in dem Terry kauerte.

»Wenn es ein Geist ist, wird das schon gehen!«, nörgelte Terry in ihr Glas hinein.

»Es gibt keine Geister, Darling. Du hast nur geträumt«, wiederholte Sean und setzte das Glas an seine Lippen. Genau in diesem Moment war es wieder zu hören. Laut und deutlich. Eine Frau weinte!

Sean hielt mitten in der Bewegung inne und seine Augen glitten zu Terry hinunter, die wie versteinert dasaß.

»Hörst du es nun?«, flüsterte sie. »Halluzination, ja?« Terry nahm ganz deutlich wahr, dass auch Sean dieses Heulen vernehmen konnte. Er setzte sein Glas wie in Zeitlupe ab, hielt den Blick stur auf die Tür zum Büro gerichtet und stand langsam auf.

»Hörst du es?!«, fragte Terry erneut und Sean nickte.

»Da ist jemand im Haus«, flüsterte er.

»Das ist sie«, wisperte Terry zurück. »Der Geist, sonst niemand!«

Sean schüttelte den Kopf und ging langsam auf die Bürotür zu.

»Bleib hier, bitte«, versuchte Terry ihn aufzuhalten. Doch er verschwand im dunklen Raum nebenan. Gleich darauf ging das Licht an. Das Heulen verstummte kurz, fing aber erneut und noch lauter wieder an.

»Sean, bitte. Bleib hier!«, rief Terry und ging nun ebenfalls langsam zum Büro hinüber. Sean war nicht zu sehen. Sie hörte die Treppe knarren. Offenbar schlich er sich nach oben.

»Sean, bitte!«, zischte Terry und knipste im Flur nun ebenfalls das Licht an. Schlagartig verstummte das Gejammer. Sean stand auf der Treppe in etwa der halben Höhe zum nächsten Geschoss. Er sah zu Terry hinunter.

»Was ist das für eine Scheiße?«, flüsterte er.

»Glaubst du mir jetzt?«, antwortete Terry mit einer Gegenfrage. Sean kam langsam die Treppe herunter, sah aber immer wieder nach oben, wo die Schlafräume waren.

»War es das, was du vorhin auch schon gehört hast?«, fragte er, als er unten angekommen war.

»Ja. Ich habe es auch bereits gestern gehört. Nur viel leiser«, bestätigte Terry. Sie war unendlich erleichtert, dass nun auch Sean dieses Heulen und Wimmern gehört hatte und er ihr nun nicht mehr einreden konnte, dass sie träumen würde.

»Vielleicht ist da oben nur ein Fenster auf«, versuchte Sean zu erklären.

»Die sind alle zu«, konterte Terry.

»Es muss eine rationale Erklärung geben«, meinte Sean und ging zurück ins Wohnzimmer.

»Du hast es doch eben selbst gehört? Warum glaubst du nicht, dass das nicht von dieser Welt sein kann?«, rief Terry verzweifelt, indem sie hinter ihm herlief.

»Nicht von dieser Welt? Ich bitte dich, Schatz!« Sean war offenbar wieder ganz der Alte.

»Wer ist das? Es ist nicht die Frau vom Foto«, versuchte Terry erneut sich zu verteidigen. Sean starrte in sein Glas und dann auf Terry. Schließlich sagte er:

»Gut, ich habe es auch gehört, ja. Aber ich glaube definitiv, dass es eine ganz rationale Erklärung dafür gibt. Womöglich ist das der Wind, der sich oben zwischen den Zinnen verfängt?«

»So ein Quatsch!«, schimpfte Terry. »Das kannst du jetzt nicht ernst meinen, oder doch? Sean! Du hast es doch selbst eben gehört!«

Sean schwieg und stierte weiter in sein Glas. In seinem Gesicht arbeitete es, das konnte man deutlich sehen. Schließlich sagte er:

»Als du das Licht angemacht hast, hörte es auf, richtig?«

Terry nickte bejahend.

»Ich habe einen harten Tag hinter mir, Darling. Ich bin hundemüde und einfach nicht in der Lage, jetzt mit dir auf Geisterjagd zu gehen. Wir lassen einfach das Licht an, okay?«, seufzte er.

Terry sah ihn verständnislos an, während er sein Glas austrank und ihr die Hand entgegenstreckte.

»Kommst du mit nach oben oder bleibst du hier unten?«, fragte er dabei.

»Können wir nicht einfach hier unten schlafen? Auf dem Sofa? Mich bekommen keine zehn Pferde mehr da hinauf!«, bettelte Terry.

»Liebes, bitte! Sei doch vernünftig! Da oben ist nichts. Was wir gehört haben, das war gruselig. Ich gebe es ja zu. Aber es wird eine sachliche Erklärung dafür geben.«

»Auch für die waagerecht schwebende Frau neben meinem Bett? Ja? Auch dafür?« Terry geriet zunehmend in Rage.

»Okay«, schnaufte Sean ergeben. »Okay. Ich hole das Bettzeug runter.«

Als er oben im Schlafzimmer die Decken und Kissen zusammenraffte und nach unten trug, ging Terry ohne Unterlass wie eine eingesperrte Raubkatze im Kreis. Sean warf das Bettzeug auf das Sofa und richtete die Schlafstelle her. Die Couch war groß genug, um zu zweit darauf zu schlafen.

»Wir können doch wegen so eines Zwischenfalles nicht unsere ganzen Zukunftspläne komplett über den Haufen werfen«, motzte er unterdessen.

»Was schlägst du sonst vor?«, parierte Terry.

»Was weiß denn ich? Such doch einen, der Geister vertreiben kann!« Sean legte sich auf das Sofa und schloss demonstrativ die Augen. »So einen van Helsing oder einen Ghostbuster für Arme!«, ließ er vernehmen.

»Du lässt mich also mit meiner Angst jetzt hier einfach so sitzen?«, zischte Terry wütend.

»Stimmt doch gar nicht, Herrgott! Ich tausche bereitwillig mein warmes kuscheliges Bett gegen dieses harte Sofa, damit du hier unten nicht alleine bist. Terry, bitte. Leg dich zu mir und versuch, noch ein wenig Schlaf zu kriegen! Lass uns morgen darüber reden, ja?«

Terry setzte sich auf die Kante der Couch.

»Nun komm schon. Wir lassen alle Lichter an. Gespenster scheuen …

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