Videodreh Burgruine

Chester wachte rechtzeitig auf, duschte sich und fand sich zum Frühstück im Restaurant des Hotels ein. An einem Ecktisch sah er Inga sitzen, die ihn anlächelte. Er hob nur kurz die Hand und steuerte auf das Frühstücksbüfett zu. Während er sich den Teller vollpackte, kam auch Ronan in den Raum.

»Na, da hat jemand Hunger«, grinste er, als er Chesters Teller sah.

»Allerdings«, gestand der und legte noch zwei Scheiben Toast auf den Berg aus Rührei, Brötchen, abgepackter Konfitüre und Schokocreme.

»Das willst du alles essen? Echt?«, lachte jemand und als er sich umdrehte, stand Dana hinter ihm.

»Habe ich vor, ja«, grinste er vergnügt. Er verspürte in der Tat einen ungeheuren Appetit.

»Na, dann!« Dana nahm sich einen Joghurt und ging zu Inga an den Tisch. Sofort steckten die beiden die Köpfe zusammen und ihre Blicke in Chesters Richtung verrieten, über wen sie gerade sprachen.

»Lass die Weiber«, ließ Ronan vernehmen. »Die fühlen sich nicht wohl, wenn sie nichts zu lästern haben.«

»Pennen die Jungs von der Band auch hier?«, fragte Chester, während er seinen übervollen Teller zu einem freien Tisch balancierte.

»Natürlich nicht!«, antwortete Ronan und setzte sich mit einer großen Portion Porridge zu Chester.

»Natürlich?«, fragte Chester verwundert und mit vollem Mund.

»Dieses Hotel gehört Ingas Dad und sie arbeitet bei einer großen Zeitung. Das erklärt doch wohl, warum die Jungs hier nicht übernachten, oder?«, mümmelte Ronan in seine Porridge Schüssel hinein.

»Verstehe.« Chester hatte dem Berg Rührei den Garaus gemacht und schmierte sich dick Schokocreme auf ein Brötchen.

»Wie kann man nur«, unkte Ronan.

»Lecker! Solltest du auch mal versuchen.«

»Rührei und Schokolade? Nein, danke.«

»Besser als die Plörre, die du gerade futterst«, konterte Chester und biss herzhaft in das Brötchen. Sie schwiegen eine Weile, ehe Chester fragte:

»Meinst du, Inga weiß schon von dem gestrigen Unfall?«

»Mit Sicherheit. Spätestens jetzt«, antwortete Ronan mit einem scheelen Blick zu den beiden Frauen hinüber.

»Na, dann können wir es ja bald in der Zeitung lesen«, stellte Chester fest. Er war inzwischen bei den Toastscheiben angelangt.

»Wo steckst du den ganzen Kram hin, hä?«, fragte Ronan amüsiert. »Ich meine, du bist ja nun wirklich nicht dick.«

»Ich hatte gestern nichts. Muss wohl daran liegen«, meinte Chester. Ronan erhob sich schwerfällig und sagte:

»Dann bin ich ja mal gespannt, was dein Magen mit dir macht, wenn du so vollgefressen unter dem Mischpult liegst!«

»Wieso Mischpult?«

»Was denkst du, wo die Musik herkommt, du Trottel. Nun mach hin da und sieh zu! Fünf Uhr!«

»Fuck! Okay, ich bin fertig!« Chester stopfte sich die letzte Scheibe Toast in den Mund, was ihn wie einen Hamster aussehen ließ und bei Inga und Dana für lautes Gelächter sorgte, als er an deren Tisch vorbeilief. Vor dem Hotel warteten schon die Männer auf Ronan. Der wies sie an, wo man für den heutigen Dreh aufbauen musste. Mit fünf Roadies aus der festen Crew luden er und Chester einige Kisten vom Truck und schleppten diese zu der Terrasse, die Ronan gestern noch als Drehort ausgewählt hatte.

Chester war immer noch mit dem Gedanken beschäftigt, wo denn die Mitglieder der Band die Nacht verbracht hatten, wenn sie nicht in diesem durchweg als luxuriös zu bezeichnendem Hotel untergebracht waren. Er traute sich aber nicht, diese Frage laut zu stellen. Es ging ihn ja eigentlich auch nichts an, obwohl er wusste, dass der nächste Ort ein paar Kilometer entfernt lag.

Wenig später nahm ihn die Arbeit vollständig ein und er bereute es sehr, sich so vollgestopft zu haben. An Ronans verschmitztem Grinsen erkannte er, dass der durchaus wusste, wie Chester sich gerade fühlen musste. Er lag bäuchlings unter dem Mischpult und steckte Kabel zusammen, während sein Magen schmerzte. Als er endlich wieder aufstehen konnte, lachte Ronan laut und schüttelte den Kopf. Er sagte jedoch nichts weiter.

Inzwischen war Nebel aufgezogen, was der ganzen Szenerie einen nahezu unheimlichen Zauber verlieh. Ronan wiederholte sich, indem er immerzu sagte, dass das wie gerufen käme und zu dem neuen Song wie die Faust aufs Auge passen würde.

Die beiden hatten ihre Arbeit beendet und beobachteten, wie die Roadies die Beleuchtung justierten. Es sah absolut perfekt aus, fand Chester. Die Ruinen im Hintergrund und der Nebel, der in Schwaden hindurch zog, wirkten mystisch und fast wie von einer anderen Welt.

Die Band kam am frühen Nachmittag in Begleitung ihrer Security an. Die Musiker trugen bereits ihre Bühnenoutfits. Während sie zur provisorischen Bühne liefen, redete Steve pausenlos auf Uther und Nolan ein und hielt ihnen ständig ein Blatt Papier unter die Nase.

»Kennst du den Spot mit dem Hund, der immer um sein Herrchen herumspringt, weil der den Ball hat? So kommt mir Stevie gerade vor«, alberte Ronan. Er saß neben Chester auf einer Kiste, in der die Gitarren verstaut gewesen waren. Chester lachte und fand, dass dieser Vergleich wirklich zutraf. Weder Nolan noch Uther gingen auf Steve ein und so verschwand der missmutig hinter seinem Schlagzeug und hämmerte probeweise darauf herum. Was er dabei aber an Geräuschen zustande brachte, imponierte sogar Chester. Es war für ihn so, als trommelte sich Steve warm und erzeugte dabei einzigartige Sprünge, Wirbel und Stakkatos.

Nolan zeigte sich offensichtlich sehr begeistert von der Terrasse, auf der alles für den Videoclip vorbereitet war und als Steve endlich aufhörte, sein Schlagzeug zu bearbeiten, griffen die drei anderen auch nach den Gitarren und klimperten kurz darauf herum.

»Kein Playback?«, fragte Chester verwundert.

»Was?«, kam die Gegenfrage von Ronan.

»In solchen Musikvideos tun die Bands doch nur so, als ob. Oder irre ich mich da?«

»Wir haben kein Vollplayback, falls du das meinst. Lediglich der Synthesizer wird später eingespielt. Ansonsten ist alles live.«

»Krass!«

»Allerdings. Aber Nolan braucht sich nun garantiert mit seiner Stimme nicht zu verstecken. Der kann singen. Und Uther und Yankee ebenso. Was soll man da ein Playback einspielen? Hey, wusstest du, dass alle drei, also Uther, Nolan und auch Yankee in Kinderjahren im Kirchenchor gesungen haben?«

»Tatsache?«

»So wahr ich hier sitze!« Ronan grinste spitzbübisch. »Ja, und jetzt sieh sie dir an. Ich bin ja mal gespannt, wie die neue Single ankommt. Du erlebst also eine Premiere, Ches.«

Kaum hatte er das gesagt, begann die Band ein kurzes Intro zu spielen. Es war nur ein oder zwei Minuten lang, doch es war so, als öffnete es eine Tür in eine vollkommen andere Welt. Als der Song dann endlich begann, spürte Chester sein Herz bis zur Schädeldecke hinauf schlagen. Das Bild, welches sich ihm bot, die Musik und die ganze Atmosphäre trugen ihn weit fort. Er fühlte sich, als würde er auf dem Rücken eines Delfins durch den Ozean getragen. Als könne er alles um sich herum einfach vergessen. Dann kam der Moment, wo es Zeit wurde, sich zu erinnern. Zurückzuschauen auf die Ruinen des Lebens und sich zu fragen, ob es das alles wert gewesen war. Der Song endete und Chester saß noch immer wie versteinert da. Dann fing er an, vor sich hin zu brabbeln:

»Das kann nicht aufhören. Nicht jetzt. Das Lied muss weitergehen! Nicht aufhören bitte!«

Er sprang auf und applaudierte frenetisch. Zunächst sahen ihn die Roadies, die Männer von der Security und das Filmteam, das vor der Band noch eingetroffen war, verwundert an. Doch dann klatschten auch sie. Chester fühlte sich bestätigt und rief laut:

»Ja, verdammt! Ja! Ja! Zum Teufel! Ja!«

Er war im Sturm seiner Begeisterung Richtung Bühne gelaufen und blieb neben den Leuten vom Filmteam stehen. Einer fragte den Mann, der offensichtlich die Regie führte und die ganze Zeit eine Art Skript in der Hand gehalten hatte:

»Reicht das aus? Keine Wiederholung?«

»Nein, keine Wiederholung. Das war einfach großartig!«

»Absolut! Ja, absolut!«, warf Chester immer noch applaudierend ein.

»Wir sehen uns die Aufnahme an und schauen, ob man alles gebrauchen kann. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass wir nichts rausschneiden müssen. Es war definitiv großartig!«, wiederholte der Mann mit dem Drehbuch, oder was auch immer er da in der Hand hielt. Dann nickte er Chester zu und meinte:

»Kannst den Jungs sagen, dass sie warten sollen und dass wir eine halbe Stunde brauchen, um das Material durchzusehen. Machst du das?«

… zur Leseprobe „Aberdeen“


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