Friedhof an einer Steilküste

Nachdem Colin gegangen war, streifte Sam noch um das Haus herum. Sie besah sich alles ganz genau und fand, dass das Gebäude noch sehr gut in Schuss war. Zwar war es den Stürmen direkt von der Küste her ohne Schutz ausgesetzt, aber es hatte dicke Mauern, die einiges aushielten. Der weiße Verputz musste vielleicht hier und da erneuert werden, doch die Fenster und Türen waren allesamt noch recht gut. Eventuell würde sie die Fensterrahmen irgendwann mal mit einer kräftigen blauen Farbe streichen, dachte Sam.

Dann machte sie sich daran, eine weitere alte Holzbank aus dem Schuppen bis neben die Haustür zu schleppen. Die Bank brauchte lediglich einen neuen Anstrich. Sonst war auch sie noch vollkommen in Ordnung. Sam mochte das Bild, das sich ihr bot. So langsam begann das Haus, ihr Herz zu gewinnen. Wenn dann erst einmal Davies ganze Sachen weg wären, könnte sie damit anfangen, ihre Idee in die Tat umzusetzen.

Ihre Idee! Das erinnerte Sam erneut an die Tongrube und an ihren Nachbarn. Entschlossen zog sie ihren Mantel an und stapfte zum Haupthaus hinauf. Auf ihr Klopfen öffnete niemand.

»Hat mich wohl kommen sehen und stellt sich jetzt tot!«, maulte Sam. Sie ging die Stufen hinunter und bog dann nach rechts ab in Richtung der Kapelle. Wenn sie schon einmal hier war, wollte sie sich auch den alten Friedhof und die Grabkapelle ansehen.

Es war bereits später Nachmittag. Der Wind war frisch und brachte die trockenen Äste der Bäume, die in der Nähe der Kapelle standen, zum Rascheln. Sam spürte, dass es sonst ungewöhnlich still war, als sie das halb offenstehende schmiedeeiserne Tor des Friedhofs passierte. Eigentlich waren immer Möwen zu hören. Nur hier schien es, als hätte man eine riesige Glasglocke über das Gelände der Kapelle gestülpt. Sam fror, was sie aber nicht daran hinderte, weiterzugehen.

Sie drückte die gusseiserne Klinke der Kapellentür herunter. Mit einem lauten Quietschen schwang diese auf. Neugierig wagte Sam einen Schritt in das Innere hinein. Die Kapelle war sehr spärlich ausgestattet. Es gab wenige grob gezimmerte Holzbänke, einen schlichten Altar und ein bescheidenes Holzkreuz an der Wand hinter dem Altartisch. Links daneben gab es eine treppenförmig angeordnete Vorrichtung, auf der man Kerzen feststecken und anzünden konnte. Sam ging geradewegs darauf zu. Es lagen zwei weiße Kerzen in einer Schale neben diesem Kerzenständer. In einem weiteren Gefäß befanden sich ein paar Münzen. Sam nestelte ihr Portemonnaie heraus, legte sachte eine Fünfpfundnote in die Schale unter die Münzen und nahm eine Kerze. Sie dachte dabei an Davie und ihre Mutter und wollte diese für die beiden anzünden. Nachdem sie das getan hatte, drehte sie sich, um die Kapelle zu verlassen, als sie einen Menschen in der offenen Tür stehen sah. Hinter dieser Gestalt war es sehr hell, sodass Sam nicht erkennen konnte, ob es sich bei der Person um den Hausherrn handelte, oder ob jemand anderes dort stand.

»Ich habe nur eine Kerze angezündet«, rief sie, weil sie das Gefühl hatte, ungebeten in die Kapelle eingedrungen zu sein und sich nun verteidigen zu müssen. Die sonderbare Gestalt in der Tür antwortete nicht und Sam fühlte sich nicht in der Lage, auf diese zuzugehen. Sie verharrte bei dem Kerzenständer.

»Es tut mir leid, wenn das nicht erlaubt sein sollte. Das wusste ich nicht!«, sagte sie weiter. Die Person drehte sich um und ging schnurstracks in Richtung des Haupthauses davon. Mit ihr verschwand auch das Licht, das sie umgeben hatte und Sam gewann wieder die Kontrolle über ihre Beine zurück. Sie hastete zur Tür, um die Person einzuholen. Als Sam jedoch nach draußen trat, war die Gestalt verschwunden.

Sam stand noch einen Moment verwirrt da und suchte mit ihren Augen die Gegend ab. Es war niemand zu sehen. Plötzlich kam ein heftiger Windstoß und warf hinter ihr die schwere Tür der Kapelle ins Schloss. Sam fuhr erschrocken herum. Sie wollte sich in dem Gebäude noch ein wenig umsehen, doch die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Es war, als wäre sie verschlossen!

»Das gibt es doch nicht!«, schimpfte Sam und rüttelte an der Tür. Sie gab nicht nach. Nun ging Sam links um den Steinbau herum und spähte durch eines der kleinen bleigefassten Fenster in die Kapelle hinein. Sie konnte deutlich den Kerzenständer mit ihrer Kerze darauf sehen. Daneben stand jemand und sah auf die brennende Kerze hinunter. Offensichtlich war es ein Mann.

»Wie kommt der denn da rein?«, fragte Sam halblaut und klopfte gegen die Scheibe.

»Hallo? Hallo Sie da!«, rief sie, doch die Gestalt bewegte sich nicht. Irgendetwas an diesem Menschen kam Sam sonderbar bekannt vor. Sam pochte weiter an die Scheibe. Sie wollte diesen Mann darauf aufmerksam machen, dass die Tür der Kapelle verschlossen war.

Nach wenigen Sekunden gab Sam es auf, an die Scheibe zu klopfen. Entweder hörte der da in der Kapelle sie nicht oder er wollte sie nicht hören. Vielleicht gab es ja noch einen anderen Zugang? Eine Seitentür? Wütend stapfte Samanta um das Gebäude herum, fand aber keine weitere Tür, durch die sie in die Kapelle hätte gelangen können. Schließlich stand sie wieder an dem Fenster und äugte hinein. Der Mann war verschwunden!

»Das ist doch nicht möglich!«, flüsterte Sam. Die Kapelle war nicht groß. Sam hätte es gemerkt, wenn jemand das Gebäude verlassen hätte, während sie es umrundete! Dessen war sie sich absolut sicher! Sie ging zurück zum Eingang und öffnete die Tür, die nun ohne Probleme aufschwang.

»Nanu?«, fragte Sam sich selbst. »Was ist denn hier los?«

Aus dem Inneren des Gebäudes strömte ihr ein kalter Luftzug entgegen. Das war es jedoch nicht, was Sam stutzig machte. Es war vielmehr der Duft, der mit diesem Luftzug nach draußen wehte. Sie kannte ihn. Sie kannte ihn zu gut. Es war Davies Aftershave! Er benutzte es immer. Es war recht teuer und in ganz Schottland kaum zu bekommen. Von daher roch man es nicht allzu oft. Nun fiel Sam auch ein, was ihr an der Gestalt in der Kapelle so bekannt vorgekommen war. Es war diese besondere Haltung, mit der die Person vor dem Kerzenständer gestanden hatte. Es war, als hätte sie Davie gesehen! Er hatte immer eine ihm eigene Haltung angenommen, wenn er stehend jemandem zuhörte oder etwas betrachtete.

»Das kann nicht sein«, sagte Sam und schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Du träumst, altes Mädchen!« Immer noch kopfschüttelnd verließ sie das Gebäude. Sie vergaß auch, dass sie sich eigentlich die Grabstellen ansehen wollte, die sich auf dem Gelände der Kapelle befanden und dass sie überdies auch Brian McKenzie wegen der Tongrube aufsuchen wollte. Sie ging wie ferngesteuert zurück zur alten Töpferei.

»Wo kommst du denn jetzt her?«, empfing sie jemand, als sie um die Hausecke bog und gedankenverloren nach dem Schlüssel in ihrer Manteltasche herumkramte. Erschrocken sah sie auf. Vor ihr stand Colin.

»Und du? Woher kommst du?«, rutschte es ihr barsch heraus. Dann musste sie lachen, weil auch Colin herrlich verdutzt dreinschaute …

… zur Leseprobe “Antony Barnes”


Diese Leseprobe teilen: