Holzbank am Flussufer

Mike saß auf einer Holzbank an der Uferpromenade. Die Eintönigkeit war heute fast nicht zu ertragen. Er langweilte sich grundsätzlich in den Semesterferien. Während seine Kommilitonen irgendwelchen Nebenjobs nachgingen, um sich ein paar Euro zu verdienen, gammelte er am Flussufer herum. Er hatte es nicht nötig, arbeiten zu gehen. Seine Eltern finanzierten nicht nur sein Studium, sondern auch sein Leben. Das hatte was, klar! Aber gerade jetzt war es einfach nur stinklangweilig.

Die Sonne brannte vom Himmel, doch im Schatten der Eiche, unter der er saß, war es ganz angenehm. Er verzog sein Gesicht zu einem mitleidigen Grinsen, als er an Patty und die anderen dachte, die jetzt irgendwo in der Hitze schufteten.

Noch wenige Semester, dann war das Studium abgeschlossen und auch er würde mit Anzug und Krawatte bewaffnet morgens das Haus verlassen müssen, um in der Firma seines Vaters seinen Platz einzunehmen. Doch bis dahin wollte er das Leben genießen. Das tat er ausgiebig, selbst wenn die Vorlesungen wieder anfingen. Es fiel ihm leicht, den Stoff zu lernen und an die Abschlussarbeit dachte er jetzt noch nicht.

Er schaute auf die Uhr seines Handys. Es war gerade mal 16 Uhr. Noch eine Stunde, bis Patty aufkreuzen würde. Das war genug Zeit, um noch eine Runde schwimmen zu gehen.

Patty war einer von Mikes Mitstudenten. Na ja, nicht nur. Patty war eigentlich sein bester Freund. Ein Kumpel, wie er im Buche stand. Mehr als einmal hatte er Mike den Arsch gerettet. Das allerdings beruhte auf Gegenseitigkeit. Dieses Geben und Nehmen schweißte die beiden zusammen. Sie gingen auch einem gemeinsamen Hobby nach und hatten sich deswegen für heute Nachmittag verabredet.

Mike kletterte über einige große Steine zum Ufer hinunter. Hier konnte man ungefährdet ins Wasser und ein bisschen schwimmen. Die Strömung des Flusses war an dieser Stelle kaum zu spüren und er wusste genau, wie weit er sich rauswagen durfte. Das Wasser war herrlich erfrischend. Noch vor wenigen Jahren war es verboten, in dem Fluss zu baden, so vergiftet war er gewesen. Nachdem aber einige der großen Chemieunternehmen an seinem Ufer geschlossen wurden und andere den neuen Umweltvorschriften Folge leisten mussten, änderte sich das langsam. Inzwischen sah man hier und da sogar Angler an den Ufern. Die Fische, die sie fingen, konnte man durchaus essen!

Mike drehte ein paar Runden und ließ sich dann auf einem großen Stein sitzend von der Sonne trocknen. Etwas weiter lagen noch andere junge Leute am Ufer und unterhielten sich lautstark. Mike kannte nur einen aus dieser Gruppe. Die Leute dort drüben waren auch Studenten. Er war noch in Gedanken bei den Personen, als er Patty rufen hörte:

»Hier steckst du! Hätte ich mir ja denken können, du faule Socke!«

Patty grinste breit, während er über die Steine zu Mike herunterkletterte und ihn dann kumpelhaft mit Handschlag begrüßte.

»Was heißt hier faule Socke?«, parierte Mike Pattys Worte. »Jeder bekommt das, was er verdient. Weißt du doch!«

Patty ging nicht auf Mikes Bemerkung ein. Er setzte sich neben ihn und sah ebenfalls zu der Gruppe hinüber, die Mike schon beobachtet hatte.

»Alles okay bei dir?«, fragte Mike. Patty war sonst nicht so wortkarg.

»Klar, alles guti!«, meinte der und schälte sich langsam aus seinen Klamotten. »Brauche nur eine Abkühlung!«

Mit diesen Worten ließ sich Patty ins Wasser gleiten. Mike wusste, dass Patty auf dem Schlachthof aushalf. Er beneidete seinen Freund überhaupt nicht um diesen Job, obwohl Patty recht gut damit verdiente. Doch als Vegetarier mochte Mike sich nicht vorstellen, wie es dort zuging. Patty hatte da weniger Skrupel als er.

Mike beobachtete Patty, während der durch das Wasser pflügte. Er wusste, dass sein Freund gerne mal über die Stränge schlug und schon mehrfach zu weit in den Fluss hineingeschwommen war. Dort war die Strömung ziemlich stark und Mike konnte ihn vor einigen Tagen nur durch schnelles Eingreifen noch zu fassen bekommen, ehe er abgetrieben wurde. Obwohl Patty so schon öfters mit dieser Strömung Bekanntschaft geschlossen hatte, ließ er sich immer wieder zu manch einer Eselei verleiten. Aus diesem Grund ließ Mike seinen Freund nicht aus den Augen.

Er war schon ein bisschen neidisch auf seinen Freund, der durch die schwere, körperliche Arbeit im Schlachthof ordentlich an Muskeln zugelegt hatte. Mike war nun auch nicht gerade ein Schmachthaken, doch an Pattys Körper konnte er sich nicht messen. Patty war inzwischen bis zu der Gruppe der anderen Personen gelangt, die am Ufer saßen. Offenbar gab es unter den jungen Leuten dort eine Frau, die Patty sehr gefiel, denn er spulte sein ganzes Balzprogramm ab. Mike grinste, während Patty sich vollkommen zum Horst machte. Das war eben Patty oder Patrick, wie er eigentlich hieß.

Mike kannte ihn erst seit Studienbeginn, aber irgendwie waren sie sich von Anfang an sofort sympathisch und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Ob es nun Musik, Sport oder ihr Hobby war. Im Gegensatz zu Mike war Patty blond, hatte blaue Augen und ein für sein Alter noch recht jugendlich wirkendes Gesicht. Er war hochgewachsen und trug sein Haar modisch kurz geschnitten. Er war ein Womanizer durch und durch und das wusste er auch. Mike hielt sich selbst für absolut durchschnittlich. Sein Haar war braun, seine Augen ebenso. Während Patty sich immer glatt rasierte, zierte Mikes Gesicht ein gepflegter Drei-Tage-Bart. Sein Gesicht war das Einzige, was Mike wirklich an sich mochte. Am Rest hätte er ohne Frage arbeiten können, was ihm aber zu anstrengend war. Er war nicht dick, wäre aber durch Sport durchaus in der Lage gewesen, seinen Körper noch zu definieren.

Patty konnte offenbar bei seiner Angebeteten nicht landen. Soeben kraulte er nahe dem Ufer zurück und kletterte aus dem Wasser.

»Hast du ein Handtuch mit?«, fragte er, während er die anderen nicht aus den Augen ließ.

»Nee«, antwortete Mike. »Pflanz dich in die Sonne, dann trocknest du von alleine! Was gibt es denn da drüben so Spannendes?«

»Swenja«, antwortete Patty nur.

»Aha!«

»Was AHA?« Patty ließ sich neben Mike auf dem Felsen nieder und knuffte ihn scherzhaft.

Swenja war eine Klasse für sich. Sie spielte in einer ganz anderen Liga als Mike und Patty es jemals tun würden. Sie war der Unischwarm schlechthin und Mike konnte seinen Freund gut verstehen. Allerdings wusste er auch ziemlich genau, dass Patty niemals bei Swenja landen könnte. Sie bevorzugte Männer, die älter waren und Geld hatten.

»Hast du nicht mal wieder Lust, loszuziehen?«, fragte Patty unvermittelt in Mikes Gedanken hinein.

»Hätte ich schon, aber die meisten Locations haben wir ja schon gesehen«, antwortete Mike.

»Ja hier!« Patty blinzelte in die Sonne. »Man müsste schon mal etwas weiter weg suchen!«

»Hm!«

»Erik erzählte neulich …«, fing Patty an und Mike unterbrach ihn barsch:

»Lass diesen Chaoten aus dem Spiel! Du weißt ziemlich genau, was ich von dem halte!«

»Aber er hat immer geile Locations!«, versuchte Patty noch mal einen Einwand.

»Das stimmt, aber beim letzten Mal hat er uns ganz schön verarscht! Hey, mir ist das Herz in die Hose gerutscht!«

Jetzt schwiegen beide. Mike und Patty hatten diese eine, gemeinsame Leidenschaft: Sie suchten verlassene Häuser auf und fotografierten sie. Nicht nur von außen. Sie hatten inzwischen auch schon einige Videos veröffentlicht und bekamen damit durchweg gute Bewertungen. UET-Urban Explorer Team nannten sie sich.

Als Mike mit diesem Hobby anfing, ahnte er nicht, wie viele in der Stadt diese Leidenschaft mit ihm teilten. Der Kreis der Urbexer war groß. Man traf sich hin und wieder, um Erfahrungen oder auch die Anschriften verschiedener Locations auszutauschen.

Mike dachte gerade darüber nach, wie das alles bei ihm angefangen hatte. Es war Zufall gewesen. Beim Recherchieren eines Artikels für sein Studium war er auf einige der Bilder von verlassenen Fabrikanlagen und Wohnhäusern gestoßen. Diese Fotos hatten ihn vom ersten Moment an fasziniert. Bald schon kristallisierte sich der Wunsch heraus, selbst einmal ein solches Haus zu betreten und die Atmosphäre eines verlassenen Ortes zu erleben. Dass Patty die gleiche Leidenschaft teilte, machte ihm den Einstieg in die Kreise der Urban Explorer leicht. Von diesem Tag an waren sie mindestens einmal in der Woche zusammen unterwegs. Sie besuchten alte, verfallende Fabrikanlagen, Schlösser, Landhäuser und auch Wohnhäuser. Mike mochte das Gefühl, welches er in den alten Räumen immer hatte. Es war so, als atmeten die kahlen, verschimmelten Wände die Geschichte. Sich dann vorzustellen, dass diese Räume einst mit Leben gefüllt waren, dass es Menschen waren, die diese Wände hochgezogen hatten, ließ in Mike oft eine besondere Art der Ehrfurcht entstehen. Manche dieser Wände und Zimmer, die er ablichtete, waren viele Jahrzehnte alt.

Er und Patty hatten inzwischen alles abgegrast, was die Gegend an solchen Objekten hergab. Beim letzten Trip hatten sie sich deswegen auf Erik Brammer eingelassen. In den örtlichen Urbex-Kreisen war Erik bekannt als der Typ, der die besten Locations kannte. Das konnte man ihm auch nicht absprechen. An jenem bewussten Tag, den Mike eben angesprochen hatte, waren sie zusammen mit Erik und noch zwei Typen unterwegs gewesen. Es war das erste Mal, dass Mike sich in einem Haus bewegte, das zum Teil noch möbliert war. Noch nie hatte er so ein Gefühl gehabt. Er ging zwischen den alten, verstaubten Gegenständen und Möbeln, die einst jemandem gehört hatten, herum. Es gab noch wenige persönliche Dinge zu sehen, die Mike ehrfürchtig betrachtete und ablichtete. Er und Patty wandelten schweigend in den verlassenen Räumen. Nur ihr Atem und das Klicken der Kameras waren zu hören, als Erik plötzlich wie von einer Furie gejagt an ihnen vorbeirannte und laut schrie …

… zur Leseprobe “Lost Places”


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