Eine Kurzgeschichte von Moira Ashly

Gegen 16 Uhr klingelte es bei Achim und durch die Gegensprechanlage hörte er Tobias, der ihn fragte, ob er nun mitkommen wolle. Achim bejahte und auf dem Weg vom 12. Stock nach unten fühlte er eine Mischung aus Freude und Ängstlichkeit. Was, wenn die ganze Gang unten auf ihn warten würde? Wenn sie ihn in eine Falle locken wollten? Als er aus dem Aufzug trat, sah er Tobias und Ruben, einen der anderen Jungs, die er für die täglichen Schmierereien an den Hauswänden hier verantwortlich machte. Aber auch Ruben grinste ihn freundlich an, als er sagte:

»Da ist er ja, unser Malermeister. Na denn auf!«

Zu dritt gingen sie an den Häuserblocks entlang und steuerten auf eine ausrangierte, alte Güterhalle zu. Achim wurde es mulmig in der Magengegend, als er die vielen Motorräder vor dem Gebäude sah. Er war schon öfter hier vorbeigegangen und hatte immer ein schlimmes Gefühl in der Magengrube gehabt.

»Was ist denn?«, hörte er Tobias fragen. Achim hatte gar nicht gemerkt, dass er stehen geblieben war.

»Hat wohl Schiss«, meinte Ruben lapidar.

»Hier geht’s lang, Meister.« Tobias ging weiter, direkt auf die großen Schiebetüren zu, die der Eingang zu der Güterhalle waren. Achim folgte nur zögerlich. Er hatte Angst, nackte Angst und hätte am liebsten wieder kehrt gemacht. Doch dazu war es nun zu spät. Er stand in der Tür, die Ruben und Tobias einen Spalt breit geöffnet hatten, und blickte sich erstaunt um.

In der riesigen Halle tummelten sich an die 50 Jugendliche. Sie standen zum Teil an großen Leinwänden, an Tischen und Staffeleien. Lautes und fröhliches Stimmengewirr drang an Achims Ohren und er atmete tief durch.

»Was ist das hier?«, fragte er Tobias endlich, der sich vor ihm gerade aus seiner Jacke schälte.

»Die Halle hat die Stadt gekauft. Für uns. Hier können wir sprayen, malen, zeichnen, Musik machen. Eben alles, was wir so wollen.« Während Tobias das sagte, schlüpfte er in einen blauen Kittel, der an einem Haken neben der Türe hing.

»Willst auch einen?«, fragte er und hielt Achim einen ähnlichen Kittel entgegen. Der zog den Kittel über und folgte dem schlaksigen Jungen quer durch die Halle. Er konnte sich an den Gemälden und Skulpturen, die sie auf ihrem Weg durch das Gebäude passierten, einfach nicht satt sehen! Zwischen all den Jugendlichen sah er auch hin und wieder ältere Personen, die scheinbar Anleitungen oder Hilfestellungen gaben. Das alles hier wirkte so friedlich! Ein großer Raum mit jungen Künstlern. So dachte Achim.

»Das hab ich angefangen.« Tobias war vor einer großen Leinwand stehen geblieben. Das Bild zeigte in verschiedenen Grautönen ein Muster, das einmal quer über die Leinwand lief und von weitem einem Stacheldraht glich.

»Jetzt hab ich aber keine Idee mehr, wie ich das weitermachen soll«, meinte der Junge und schaute Achim fragend an. Achim war vollkommen überrascht und überfordert. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet.

»Hey, was ist? Bist du noch da?«, fragte Tobias lachend. »Hast wohl gedacht, dass wir hier nix gescheites machen, was?«

»Ich –«, Achim musste sich räuspern. »Ganz ehrlich, ich habe immer gedacht, dass du und die anderen immer die Schmierereien an die Hauswand pinseln.«

»Meister!« Ruben schlug Achim auf die linke Schulter. Er stand direkt hinter ihm, auch vor einer großen Leinwand. »Meister, wenn wir hier rausgehen, sind wir fertig mit dem Sprayen. Dann fassen wir keine Dose mehr an, das kannst du glauben.«

Achim drehte sich um und schaute auf Rubens Bild. Es stellte in den wundervollsten Farben, die Achim sich vorstellen konnte, einen Garten dar.

»Das hast du gemalt?!«, fragte Achim mehr als erstaunt.

»Hmmm. Gesprayt, nicht gemalt.« Ruben schaute unter seiner blonden Mähne kritisch auf das Bild. »So einen Garten will ich mal haben. Später«, sagte er noch.

»Klasse. Einfach – Klasse!« Achim konnte seine Bewunderung nicht länger zurückhalten.

»Wieso denkst denn du, dass wir die Hauswand anschmieren?«, fragte Tobias neben ihm.

»Na ja. So wie ihr ausseht? Und freundlich wart ihr auch noch nie wirklich«, rutschte es Achim heraus.

»Wie man in den Wald schreit, würd mein Dad jetzt sagen.« Tobias lachte.

»Nur weil wir lange Haare haben und nicht geschniegelt und gebügelt rumlaufen, denkst du so was?« Ruben schüttelte den Kopf, ohne sein Bild aus den Augen zu lassen.

»Tut mir ja auch leid«, hörte Achim sich sagen.

»Jetzt auch egal. Hier, mach du mal weiter.« Tobias drückte Achim eine Spraydose in die Hand.

»Aber ich hab noch nie!«, protestierte der.

»Dann lernst du es. Los!«

Weit nach 20 Uhr gingen Tobias und Achim nach Hause. Auf dem Weg fragte Tobias:

»Stimmt das eigentlich, was da gestanden hat?«

»Was wo gestanden hat?«, fragte Achim.

»An der Wand da.«

»Ah so. Ja, das stimmte.«

»Okay«, kam es gleichmütig unter der wilden, bunten Matte hervor.

»Sauer?«, fragte Achim.

»Nö, wieso? Ist doch dein Ding.«

»Hätte ja sein können.«

»Quark. Du bist in Ordnung. Ist mir scheiß egal, was du sonst so machst. Malen kannst du!«

»Sprayen!«, lachte Achim.

»Stimmt, sprayen«, lachte Tobias zurück.

»Ich hatte keine Ahnung von dem – Laden da«, nahm Achim das Gespräch nach ein paar Schritten wieder auf.

»Das hat wohl keiner. Denken alle immer, dass wir nur Randale machen. So schlimm sind wir gar nicht.« Tobias kickte einen Stein mit dem Fuß.

»Nee, seid ihr wirklich nicht.«

»Weißt du, ich weiß, wer die Schmiererei an der Hauswand immer macht.« Zack – noch ein Stein flog.

»Und wer?«

»Ey, ne Petze bin ich nicht! Aber ich versprech’ dir, dass das aufhört.«

»Du kennst denjenigen oder diejenigen also?«

»Na wie man sich halt so kennt hier, wenn man mal rumhängt.«

»Aber du hängst doch gar nicht mehr rum!« Zack! Diesmal war es Achim.

»Nö, jetzt nicht mehr. Ich meine, das macht richtig Laune da in der Halle. Und wir wollen auch ‘ne richtige Ausstellung machen, irgendwann mal.«

»Ehrlich? «

»Hmm, ehrlich. Ich bin ja mal gespannt, wie viele von den Leuten aus dem Block kommen, wenn es so weit ist.«

»Dein Bild wird Klasse!«, bemerkte Achim nach einem Moment des Schweigens ehrlich.

»Wenn du mir weiter hilfst? Denke schon.«

»Ich denke auch!«, lachte Achim laut und befreit. Er fühlte sich in Tobias Gesellschaft wohl und tat zum tausendsten Male Abbitte dafür, dass er diesen schlaksigen Jungen und seinen Freund Ruben so negativ eingeschätzt hatte.

Sie gingen die Straße hinunter und sprachen jetzt über Farben, Motive und Maltechniken. Ein richtiges Gespräch unter Künstlern. Wenn man die beiden so sah, sah man zwei Gestalten, die die Hände in den Hosentaschen vergraben hatten und in ein Gespräch vertieft nach Hause gingen. Sie lachten, kickten Steine vor sich her und es war nicht zu erkennen, wer von beiden zufriedener war.

Sie wirkten wie langjährige Freunde.

… Ende


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