Chester auf der Brücke

Chester stand mit weichen Knien auf dem Brückengeländer und starrte auf das schäumende Wasser tief unter ihm. Mit dem linken Arm hielt er sich an einem dicken Stahlseil fest, das die Trägerkonstruktion der Brücke mit dem breiten Geländer verband. Es war hoch, sogar beängstigend hoch und Chester schwitze, obwohl es recht kalt war. Unter ihm tobte der River Clyde und in ihm die Verzweiflung. Er wollte Schluss machen. Jetzt und hier. Er hatte die Schnauze voll!

Heute früh lag der Räumungsbefehl im Briefkasten seiner schäbigen und winzigen Wohnung in Glasgow. Er hatte es kommen sehen. Seit mehr als fünf Monaten konnte er die Miete nicht mehr bezahlen. Nun war es also soweit. Man setzte ihn auf die Straße.

Das ganze Elend und all der Ärger, der ihn seit einem Jahr begleitete, ließen ihn aufgeben. Kein Job, kein Geld und jetzt auch keine Wohnung mehr. Den Strom hatte man ihm schon lange abgestellt. Er kam trotz allem irgendwie zurecht. Aber ohne Wohnung? Ohne Dach über dem Kopf? Ohne schützende vier Wände? Nein! Dieser Brief brachte das Fass zum Überlaufen.

Sollten die anderen doch sehen, was sie davon hatten. Er hatte einen Abschiedsbrief in seiner Behausung hinterlegt, der alle anklagte! Verwandte, Familie, Freunde! Alle, die ihm nicht mehr helfen wollten. Dabei war es gar nicht seine Schuld, dass er keine Arbeit fand. Man wollte ihn nicht. Nicht, weil er vielleicht schmuddelig und ungepflegt war. Nein! Er hatte sogar studiert! Aber immer wieder hörte er, er sei überqualifiziert.

Chester lachte bitter auf. Überqualifiziert! Dabei sollten die doch froh sein, einen Mann seines Formates in ihrer Firma haben zu dürfen, oder etwa nicht? Mit seinen zweiunddreißig Jahren hatte er schon so viel Dreck geschluckt, dass er sich für keine Arbeit zu schade war. Und doch wollte es nicht klappen.

Er hatte sich genau diese Brücke ausgesucht, um seinem beschissenen Leben ein Ende zu bereiten. Es war einsam hier. Keine Radfahrer, keine Autofahrer und keine Fußgänger. Kein Mensch sollte seinen Abschied stören. Er wollte Ruhe, wenn er gehen würde. Vielleicht fand man dann seine Leiche irgendwo flussabwärts am Ufer. Das war ihm aber egal. Davon würde er ja nichts mehr mitkriegen.

Er hatte sich informiert und ertrinken schien ihm noch das Beste zu sein. Sich vor einen Zug zu werfen, dazu hatte er nicht den Mut. Das musste doch auch schrecklich wehtun, oder etwa nicht? Er fand, dass ein Sprung in das Wasser noch der beste Tod war, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie es sein würde, zu ertrinken.

Langsam ging er auf dem Geländer mit den Fußspitzen weiter nach vorne. Jetzt musste er sich schon gut festhalten, damit er nicht sofort in die Tiefe stürzte. Vielleicht noch ein, zwei Atemzüge, dann würde er loslassen. Schade nur, dass er die bestürzten Gesichter nicht mehr sehen könnte. Sein Vater, der ihm vor Monaten den Geldhahn zugedreht hatte und auch jetzt nicht bereit war, ihm zu helfen. Seine Mutter, die sich nie gegen ihren gewalttätigen Gatten durchsetzen konnte. Vor allem aber Elisa, die er so verehrte, die ihn aber jedes Mal eiskalt abblitzen ließ. Dabei sah er doch gut aus. Er war durchtrainiert, recht groß, hatte dunkelbraune Haare, braune Augen und ein männlich markantes, aber nicht hässliches Gesicht. Andere Mädels hätten gern was mit ihm angefangen, aber er wollte eben nur Elisa, und die machte sich einen Spaß daraus, ihm einen Korb nach dem anderen zu verpassen.

Sie alle würden ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, dessen war er sich sicher. Langsam löste er seinen linken Arm von dem Stahlseil. Einen Atemzug noch. Doch bevor er loslassen konnte, spürte er, wie sein Mobiltelefon in der Hosentasche vibrierte. Sollte er noch drangehen? Kam drauf an, wer ihn anrief. Vielleicht war es ja jemand, dem er seine ganze Wut und seinen Frust entgegenbrüllen und den er seinen Sturz miterleben lassen könnte? Wie schuldig musste sich diese Person dann ihr ganzes Leben fühlen. Das war eine grandiose Idee!

Er nestelte das Handy aus der Hosentasche und sah auf das Display. Es war Alex, ein alter Kumpel aus längst vergangenen Tagen. Was wollte denn der ausgerechnet jetzt von ihm?

Die Neugierde siegte. Chester nahm das Gespräch an und drückte sich wieder mehr an das Stahlseil.

»Ja?«, fragte er.

»Hey Ches! Ich bin es, Alex«, hörte er die immer fröhliche Stimme seines alten Freundes. Vor seinem geistigen Auge tauchte ein sommersprossiger Rotschopf auf, der wasserblaue Augen hatte und der scheinbar einfach nicht zu altern schien.

»Hey, Alex«, antwortete Chester.

»Junge, wo steckst du? Ich bin bei deiner Bude«, hörte er Alex gegen den Lärm eines Autos rufen, das offenbar gerade an seiner ehemaligen Wohnung vorbeifuhr.

»Irgendwo draußen«, antwortete Chester kurz angebunden.

»Und wo ist das, dieses irgendwo draußen?«

»Keine Ahnung. Hab mich wohl verlaufen. Was willst du?«

»Das klingt so komisch bei dir, Ches. Du machst doch keinen Scheiß, oder?«

Chester wunderte sich, dass Alex ihn offenbar doch so gut kannte. Noch ehe er etwas Banales erwidern konnte, hörte er: »Ches, mach keinen Scheiß. Ich glaube, ich weiß, wo du bist. Hör zu, es gibt keinen Grund alles hinzuwerfen, verstehst du?«

Darauf konnte Chester nichts entgegnen. Sein Atem ging schwer und Zweifel an dem, was er vorhatte, kamen auf. Wenn er bis eben noch fest entschlossen war, sich in die Tiefe zu stürzen und allem ein Ende zu bereiten, so fing sein Hirn endlich wieder an zu arbeiten.

»Ches, ich habe einen Job für dich. Hörst du? Ich habe einen Job für dich!«, brüllte Alex in das Telefon. Auch er atmete plötzlich ziemlich stark, als stünde er unter einer großen Belastung. Chester klammerte sich wieder fest an das Seil und trat langsam von der Kante des Brückengeländers zurück. Er schluckte und ihm wurde übel.

»Ches, sag was. Bitte!«, vernahm er nun aus dem Handy von Alex, der in höchstem Maße besorgt zu sein schien.

»Was«, Chester musste sich räuspern, ehe er erneut ansetzte: »Was für einen Job?«

»Junge, dein Traumjob!«, keuchte Alex nun. »Wir saßen am Flussufer, erinnerst du dich? Das Clyde Ufer! Wir haben darüber gesprochen, wie geil es wäre. Mann, sag was!«

»Kann mich nicht erinnern«, krächzte Chester.

»Streng deine grauen Zellen an, du Blödmann! Wir waren beide so Mitte zwanzig! Herrgott! Du musst dich doch daran erinnern!«

Das war clever von Alex. Sehr clever sogar! Chester überlegte und überlegte, während Alex ihn immer wieder aufforderte nachzudenken. So vergingen etliche Minuten, ehe etwas Metallisches auf der Brücke gegen die Brüstung knallte und jemand Chesters Namen rief.

»Ches, du verdammtes Arschloch! Runter da!« Es war Alex, dessen Gesicht unnatürlich rot angelaufen war. Schweiß rann ihm über die Augen und er rang nach Luft, als er langsam zu dem auf dem Geländer stehenden Mann ging.

»Woher weißt du?«, fragte Chester verblüfft.

»Du bist so ein hirnrissiger Idiot, echt Mann!«, fluchte Alex, weiter auf ihn zugehend. »Wie oft waren wir hier oben und haben in den Fluss gespuckt. Ach, nicht nur das. Wer konnte am weitesten pinkeln, hä? Und wie oft hast du hier über dem Geländer gehangen und dir die Seele aus dem Leib gekotzt? Wer war dann bei dir und hat dich gehalten?« Alex war mit dem Fahrrad hier angekommen und hatte es, als er Chester endlich sah, achtlos gegen das Brückengeländer geworfen. Nun stand er mit hochrotem Kopf, flammend rotem Haar und wütend blitzenden Augen da. Er wirkte auf Chester wie ein Kobold. Alex war ein Kopf kleiner als er selbst, aber zäh.

»Komm schon, komm da runter, Mann!«, bat Alex nun wesentlich milder. »Es gibt keinen Grund, alles wegzuwerfen!«

»Du hast ja keine Ahnung!«, motzte Chester.

»Stimmt, habe ich nicht. Hast recht. Dann lass uns drüber reden, bevor du so einen Mist machst, ja?«

»Drüber reden? Über was?«, höhnte Chester bitter. Nun fing es an, wie aus Kübeln zu regnen. »Passt doch«, schrie Chester in den Himmel. »Passt!«

»Merkst du eigentlich, was für ein Arsch du bist? Hey, hinschmeißen kann jeder, kapiert? Aber hör dir doch erst mal an, was ich zu sagen habe, okay? Wenn du dann immer noch da runterspringen willst, dann bitte. Tu dir keinen Zwang an!«, brüllte Alex. Chester schaute verwirrt auf den Rotschopf, der in zwei Schritt Entfernung nun bei ihm am Geländer stand und nicht gewillt war, seinen Freund so einfach aufzugeben. Seinen Freund, – hatte er eben „seinen Freund“ gedacht? War es nicht ein Geschenk des Himmels, so einen Kumpel zu haben?

»Also, erzähl. Was für einen Job?«, fragte Chester nun etwas ruhiger geworden.

»Du wolltest doch immer einen richtig großen Truck fahren. Und jetzt kommt der Hammer! Die NUYS suchen jemanden, der das schwarze Ungeheuer fahren kann«, stieß Alex hervor und sah Chester fest in …

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